Zeilen und Tage
meine Arbeiten einen Lektüre-Rückstand von 6000 bis 8000 Seiten, wird unweigerlich zu Mißverständnissen führen. Als ob mir daran gelegen wäre, einen Desinteressierten zu bekehren.
26. September, Amsterdam
Zur morgigen Bundestagswahl sind offiziell 27 Parteien zugelassen. Systemtheoretiker machen klar, warum zwei für eine funktionierende Demokratie genügen würden.
Am Nachmittag auf der Insel nördlich der Centraal Station war der Moment gekommen, die seit längerem vorbereitete Eröffnungsrede für die Ausstellung Freistaat Amsterdam zu halten. Ich wählte für sie die Form einer Phantasie über den Satz des Aristoteles, ein guter Architekt würde Häuser so bauen, wie die Natur sie formen würde, wenn sie Häuser wachsen ließe. Das Publikum tolerierte wohlwollend, daß ich Deutsch, nicht Englisch sprach. Hohe Stimmung post eventum. Abends im Hotel noch eine halbe Seite am Derrida-Aufsatz.
1. Oktober, Wien
Nach vielen Jahren Geist der Utopie in der zweiten Fassung wiedergelesen, um den Bloch-Abschnitt in der Neapel-Rede vorzubereiten. Ein Buch, auf dem Hexenbesen des Weltverwandlungswahns geschrieben, rücksichtslos, arrogant, parakletisch, scharlatanisch, durch den Noch-nicht-Gedanken hypnotisiert – und grenzenlos genial. Es ist inzwischen fast so unlesbar wie die Reformtraktätchenliteratur vom Monte Verità. Aus der Weltwende-Begeisterung ist Asche geworden. Unter der Asche – noch mehr Asche.
Gumbrecht nennt in seinem Zeit -Aufsatz zum Streit über meine steuerpolitischen Thesen die ganze Aufregung einen »Luxus-Konflikt«, um den uns Angehörige anderer Nationen nur beneiden können. Zwar macht er aus seiner Sympathie für meine Position keinen Hehl, sein ausgleichender Ansatz verrät jedoch, daß er, unverbesserlich amerikanisch und sportlich denkend, ganz ernsthaft glauben möchte, es handle sich um eine »Debatte«. Erhat vergessen: Deutschland war noch nie ein Debattenland, sondern eine Echokammer für Hysterien und Vorwürfe, aus denen keiner etwas lernt, außer wie man die nächste Runde sinnloser Aufregungen anzettelt.
Sprichwort: Es gibt immer mehr Feuer, als Schläuche, um sie zu löschen.
2. Oktober, Wien
Was fällig war: Eine Schweizer Ethikkommission hat die Forderung nach Anerkennung der Pflanzenwürde verkündet.
Der junge Physiologe Sigmund Freud arbeitete über den Hoden des Aals (1876).
In einer jüngst vorgelegten Studie mit dem verheißungsvollen Titel Narrative Erforschung von Zorn in Organisationen – einem neuen Zweig der Literatursoziologie – wird der Nachweis geführt, daß »unsere Geduld, das Verhalten anderer zu interpretieren, nicht unbegrenzt ist«.
Veterinärparasitologen haben herausgefunden: Hundefellflöhe können höher springen als Katzenfellflöhe – für diese Erkenntnis ist ein Forscherteam an der Ecole nationale vétérinaire de Toulouse verantwortlich. Andere Teams werden die Frage beantworten müssen, warum das so ist.
Von Meike Wolf erscheint demnächst eine Arbeit: Die kulturelle Konstruktion der Menopause .
Die Wissenschaftssoziologie steht kurz davor, einen neuen Zweig für die Exploration der Soziodynamik von funktionslosem Wissen zu etablieren. In Berlin plant man einen Sonderforschungsbereich zur Entwicklung interdisziplinärer Methoden zur Vernetzung von stipendienbefeuertem Kognitionsluxus. Eine Schlüsselrolle in der neuen Fachrichtung werden die in Frankfurt und München vorgesehenen Lehrstühle für systemtheoretisch fundierte Forschungsnützlichkeitsvortäuschungsforschung einnehmen.
3. Oktober, Karlsruhe
Seit 1776 bzw. 1789 hat die große Geschichte in der westlichen Welt die Form eines Reklamationsverfahrens. Der Grund dafür liegt in der Neuformulierung der sozialen Beziehungen in der Sprache des Rechts. Was man als Kämpfe der Klassen oder Interessenkollektive wahrnimmt, sind ihrer Prozeßform nach Verrechtlichungskämpfe. Diese gehen von schon bestehenden Brückenköpfen des Rechts aus – Hannah Arendts Formel vom Recht, Rechte zu haben, deutet die Brückenkopfdynamik der weitergehenden Forderungen an. Soziale Reklamationen machen Geschichte, weil stets neue Kläger an die Barriere treten, die den Verfassern der ersten in Rechtssprache verfaßten Deklarationen Inkonsequenz vorhalten – immer mit gutem Grund. Man muß also mehr Verrechtlichung wagen. Der Reihe nach stören Arbeiter, Frauen, Kolonialuntertanen und Marginale die semantische Idylle der bürgerlichen Gesellschaft, die ihren Baufehler nicht länger zu verbergen
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