Zeilen und Tage
Tendenz zur Anreicherung des Giftgehalts auftritt.
26. Oktober, Essen
Es kommen Gratulationen zum gestrigen Quartett, von dem manche Gäste sagten, es sei eines der besten gewesen, indessen Zuschauerzahlen und Quote niedrig waren – die Uhrumstellung auf die Winterzeit nahm uns einen großen Teil des Publikums.
27. Oktober, Karlsruhe
Bei den Sportspielen zu Ehren des toten Patroklos wurden von Achill mehrere Preise ausgelobt, bis hin zum fünften Platz. Bei den Wettkämpfen von Olympia schaute man immer nur auf den Sieger. Ihm allein stand das athlon zu, von dem die Athleten ihren Namen haben. Bei den Patroklos-Spielen gab es im Faustkampf ein Unentschieden, so daß Achilles beiden Kämpfern gleich hohe Siegespreise zusprach – auch dies bei den siegverliebten Griechen eine Ausnahme.
28. Oktober, Karlsruhe
Das Verfassen von Nachrufen bleibt eine undankbare Kunst, für die überlebende wie für die tote Seite. In dem Nekrolog auf den soeben im Alter von 77 Jahren verstorbenen Musikkritiker Heinz-Klaus Metzger schreibt ein kaum betrübter Kondolent, der Dahingegangene sei die »Callas des metaphysischen Desasters« gewesen.
Eduard Hanslick nannte den Ton und den Klang »geistfähiges Material«. Die Formel könnte den Ausgangspunkt einer allgemeinen Stofftheorie bilden.
Seneca in de brevitate vitae , 13, 2: Graecorum iste morbus: die Spitzfindigkeit.
29. Oktober, Karlsruhe
Colmar Freiherr von der Goltz plaudert in Volk in Waffen , 1883, das Geheimnis der soldatenverschwenderischen Kriege im Zeitalter der bevölkerungsstarken Nationen aus: »Leicht trennt nur die Jugend sich vom Leben.« Man ahnt, was daraus in den geburtenschwachen Zivilisationen folgt: Der Krieg hört nicht auf, doch wird er zu großen Teilen auf technische Waffensysteme übertragen.
30. Oktober, Dortmund
Es reist sich leicht mit einem fertigen Manuskript. Die Verlesung des Odysseus-Vortrags am Theater in Dortmund war einer von den hermetischen Erfolgen, die ein Rezitator mit dem anwesenden Publikum teilt, in diesem Fall vielleicht 500 Personen, die sich für anderthalb Stunden von einem rhapsodischen Exkurs in die Antike gefangennehmen ließen. Wer sich auf einer Bühne sehen läßt, wird Teil des Kaff-Effekts. Eine Stunde danach sitzt man bei einem mittelmäßigen Griechen beisammen und denkt schon wieder an etwas anderes.
1. November, Berlin
Aus dem Louisiana Museum bei Kopenhagen die Einladung, aus Anlaß des Weltklimagipfels am 12. Dezember eine Art von Last Word Lecture zu geben.
Zur Lesung im ausverkauften Deutschen Theater aus Du mußt dein Leben ändern finden sich 550 Besucher ein. Beim Büchersignieren fällt auf, daß die meisten Käufer Exemplare aus der 6. Auflage vorlegen. Von Suhrkamp seit mehreren Monaten kein Wort. Kein Schatten eines Vertreters des Verlags im Publikum.
Die Kläglichkeit des schwarz-gelben Koalitionsvertrags ist so bestürzend, daß jeder Versuch, die Erinnerung an zivilgesellschaftliche Tugenden zu wecken, auf Jahre hinaus sinnlos geworden scheint. Damit ist auch der Antrieb zur Wiederaufnahme der Debatte über die Demokratisierung von Steuern bis auf weiteres erloschen.
2. November, Karlsruhe
Wie um zu bestätigen, es sei genug, daß jeder Tag seine eigene Plage habe, sehe ich die 65 Bewerbungen um die Nachfolge für den Groys-Lehrstuhl durch. Nach dieser Übung will man sich eine schwarze Wolldecke über den Kopf ziehen und von Geisteswissenschaften nie mehr etwas hören. Immerhin bleiben drei oder vier Kandidaten übrig, die man zu Hearings einladen kann.
3. November, Karlsruhe
Der junge Maupassant schreibt an Flaubert: »Frauen zu vögeln ist nicht weniger öde als männlichem Witz zu lauschen. Ich finde, daß die Nachrichten in den Zeitungen sich unaufhörlich wiederholen, daß die Laster trivial sind und daß es zu wenige unterschiedliche Varianten gibt, Sätze zu bilden.« Der 28jährige Verfasser versteht, daß es zwischen Sex und Syntax eine Analogie gibt, er weiß aber noch nicht, wie man dem gut Gemachten hier und dort auch bei häufiger Wiederholung Neues abgewinnt.
5. November, Karlsruhe
Im heraklitischen Ton klagt Jules de Goncourt in einem Brief an Flaubert: »… eine traurige Wahrheit, daß man nicht zweimal denselben Salat essen kann.« ( Briefe , S. 68)
6. November, Karlsruhe
Was Nietzsche möglicherweise nicht bedachte: Eine Urform des Ressentiments könnte der Widerwille der marginalen Völker gegen die Großarchitekturen der Imperien gewesen sein. Die »Niedertracht« beginnt
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