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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Assisi auf Padua übersprang: Nach Franziskus greift Antonius, der Franziskaner aus Lissabon, die Idee auf, es sei für einen Glaubenshelden unannehmbar, das Lebensalter des Herrn zu überschreiten. Franziskus stirbt mit 34 Jahren, Antonius mit 36.
    Es genügt, die Antonius-Basilika zu betreten, um zu begreifen, in welch triumphalischen Deklinationen die Heiligkeit der Heiligen vormals gefeiert wurde. Es gab tatsächlich einen katholischen Willen zur Macht – er zeigte sich in der rasenden Entschlossenheit, zu behaupten, daß auserwählte Einzelne schon zu Lebzeiten ganz auf der anderen Seite existieren können. Der Glaube ist die Macht des Diesseits, das spröde Jenseits herbeizuzwingen.
    Nirgendwo hat man die Ehre der Sprache so verherrlicht wie in Padua, wo man in einer Kapelle hinter dem Hochaltar der Antoniusbasilika den Besuchern in Reliquienschreinen aus Gold und Glas die Zunge des Antonius und seinen Kehlkopf zeigt. Die mumifizierte Zunge sehen und sich einbilden können, ihre himmlischen Reden zu hören, das war der gläubige Glaube in seiner oralen Phase.
20. September, Pordenone
    Nicht oft genug kann man nach Venedig fahren, wenn man wissen will, was Italien und Europa bevorsteht. Die Stadt verkörpert die Lektion, daß langsame Dekadenz das größte Privileg ist. Falls Dekadenzbeschleuniger auftreten, Berlusconi ist ein solcher, wird der sanfte Abstieg zum Sturz. Es könnte passieren, daß vom schönen Italien in Kürze nicht mehr übrigbleibt als von Ägypten nach dem Erlöschen der Pharaonen und ihrer stillosen Erben, eine entgeisterte Biomasse, in der es spukt, ohnedaß aus dem gelegentlichen Aufflackern von fahler Energie ein neues Leben entsteht. Dann würden auch hier irgendwelche bösen toten Seelen Reisebusse in die Luft sprengen und letzte Touristen liquidieren, im Namen einer Wut, die sich selbst nicht versteht. Noch fünf Jahre Berlusconi, und dieses Land bringt nichts mehr jenseits von Ejakulationen und Verdauungsgeräuschen zustande.
    Gestern Abend eine performative Lesung aus Du mußt dein Leben ändern in der Klosterkirche von Pordenone vor größerem Publikum. Das Land überspielt seine Depression, indem die Bürger der Provinz den täglichen Zeichen der Schande aus Rom ihre unverwüstliche Entschlossenheit zum Promenieren in den sonnigen Innenstädten entgegensetzen.
21. September, Köln
    Am Flughafen von Venedig ein kleines Lehrstück in italianità. Durch irgendeinen Zufall wird in der großen Halle eine Alarmsirene ausgelöst. Überall sonst hätte man sicher sein dürfen, sie würde binnen zwei Minuten abgestellt. Hier wartete man mehr als eine Viertelstunde darauf, daß sich ein paar demotivierte Techniker auf den Weg machten, um die Störung zu beheben, mit dem Erfolg, daß es nach einer Minute von neuem losging.
    Lance Armstrong, Sohn einer 16jährigen, die vom Erzeuger des Kindes verlassen wurde, bevor es ihn kennenlernen konnte, nannte seinen Krebs einen »Bastard«, der sich in einem Körper eingenistet hatte. Der Organismus selbst hat illegitime Erben, die ihn umbringen, wenn er sie nicht in Schach hält.
    Vom Hotel am Rheinufer aus der Blick auf den taubenblauen Himmel. Am unteren Rand fahle orangenfarbene Streifen. Die Eisenbahnbrücke dröhnt unaufhörlich, während der Fluß glitzert und die Nachtwolken die Stadt beiläufig überschweben. Später im Taku.
22. September, Köln
    Battle fatigue, eine militärärztliche Diagnose. Vielleicht auf Zivilisten übertragbar.
    Edward de Bono, der Papst der Konsultanten, hält den Eröffnungsvortrag zum Radio Day. Er ist höflich genug, meinem Beitrag, der auf seinen folgt, bis zum Ende beizuwohnen.
25. September, Karlsruhe
    Aus der Redaktion der Zeit kam ein diskreter Hinweis auf einen bevorstehenden Angriff von Axel Honneth auf meinen FAZ -Artikel über die nehmende Hand von Anfang Juni. Wie lange muß er gebrütet haben.
    Honneths Aufsatz zu lesen erweist sich als mühsame Aufgabe, da sie mit der Zumutung verbunden ist, sich durch zwei endlose Seiten von ansteckender Talentlosigkeit zu schleppen. Um nicht ganz untätig zu bleiben, schreibe ich eine kurze Richtigstellung für die FAZ vom Wochenende, halb ärgerlich, halb beiläufig, eine Antwort, die mir, kaum daß ich sie abgeschickt habe, deplaziert scheint. Wer die Replik aufmerksam liest, muß bemerken, daß mein Kampfgeist vorgetäuscht ist – er hat mehr von einer allergischen Reaktion als von einer sportlichen Riposte. Die launige Bemerkung, der gute Mann habe in bezug auf

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