Zeilen und Tage
Umverteilung zugunsten der weniger Erfolgreichen, da sie sich in diesen selber leichter wiedererkennen. Hierin bilden sie den direkten Gegensatz zu der Generation Thatcher, die mit dem Gefühl aufwuchs, die Welt sei nichts als ein Obstgarten mit tiefhängenden Früchten.
Zur Stunde ist wieder eine Generation Rezession auf dem Weg, in der zahllose gut qualifizierte Jugendliche um unbezahlte Volontariate konkurrieren. Bemerkenswerterweise halten sich diese Jungen stoisch aufrecht. »They keep calm and carry on«, selbst wenn sie ihr Studium mit einem Berg Schulden abschließen. Nicht selten haben sie Studiengänge ins Nichts absolviert, erfunden von hastigen Reformern, die längst in Rente sind, wenn der von ihnen in den April geschickte Nachwuchs auf dem blockierten Arbeitsmarkt eintrifft.
17. Oktober, Karlsruhe
Monas 16. Geburtstag.
Ethik und subjektive Parteienlehre: Im inneren Parlament jedes Menschen gibt es einen rechten Flügel, der resolut das Nehmenvertritt, und eine Linke, die dem Geben den Vorrang läßt. Nach den ältesten moralischen Intuitionen der Menschheit ist das progressive Moment, das man modern und politisch das linke nennt, mit der Gabe verbunden, das regressive gehört seit jeher den unersättlichen Nehmern.
Das äußere Bild der politischen Parteienwelt stellt sich genau umgekehrt dar: Die Linke will nehmen, was sie kann, während die Rechte zum Geben genötigt werden soll. In der verkehrten Welt der Fiskalethik ist das Nehmen seliger als das Geben, auf die Gefahr hin, die ursprünglichen moralischen Orientierungen der Menschheit auf den Kopf zu stellen
20. Oktober, Karlsruhe
Bei Homer taucht eine Wunderwelt aus geistreichen malerischen Beiworten auf: Eos heißt die rosenfingrige, rhododaktylos; Athene die eulenäugige oder grauäugige, glaukopis; Odysseus der vielgewanderte, polytropos, oder der standhaftkluge, talasiphronos; Zeus der augenbrauenmächtige, weitschauende, euryopa.
Es liegt nahe, den Odysseus -Vortrag für das Dortmunder Theater Ende des Monats als eine Meditation über die Epitheta des Helden anzulegen: der Vielgewanderte, der Listenreiche, der göttlich Vielduldende, der nie hilflose Vielerfindende.
Houellebecq: Keine Angst vor dem Glück, es existiert nicht.
Andrian Kreye erwähnt in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung zu der intellektuell enttäuschenden, durch die Desinformationen der Zeit von Anfang an aufs falsche Gleis gelenkten Debatte über den Sozialstaat, die Leistungsträger und die Natur der Steuern, wie nebenbei nicht uninteressante Zahlen. So sollen in den USA im Jahr 2008 307 Milliarden Dollar für wohltätige Zwecke gespendet worden sein – zum Vergleich: der deutscheBundeshaushalt betrug in diesem Jahr 283 Milliarden Euro. Diese Angaben gehen auf Mitteilungen des Center on Philanthropy an der Universität von Indiana zurück. In derselben Zeit wurden in Deutschland nach einer Recherche des GfK Charity Scope 4 Milliarden an Spenden aufgebracht. Auf die Bevölkerungen beider Länder umgerechnet ergibt das den Befund, wonach Amerikaner fast zwanzig Mal spendenintensiver tätig sind als die Deutschen, bei ungefähr gleicher steuerlicher Belastung. Hierzulande starrt alles unentwegt wie hypnotisiert auf den Fiskalstaat, als wäre er die einzige Instanz, die den Bürgern einen Hauch von sozialem Zusammenhang zuführt. Die Amerikaner erwarten von ihrem Staat unvergleichlich weniger. Sie sind keine Volksgemeinschaft aufgrund gemeinsamer Verbrechen, sie haben sich auch nie eingebildet, eine Kulturgemeinschaft zu sein. Sie leben in ihrer noch immer improvisierten »Nation« zusammen, weil sie das Risiko, Amerikaner zu sein, täglich zu tragen bereit sind. Sie gehen davon aus, sie seien da, um sich selbst und anderen zu helfen, so lange und so oft wie nötig.
25. Oktober, Wolfsburg
Das Thema der heutigen Quartettsendung – passend zur Programmzeit von fünf vor 24 Uhr – lautet Halbzeit der Krise , was einigermaßen hochstaplerisch klingt, als ob wir oder irgendwelche Leute sonst in der Welt wissen könnten, wie lange die Turbulenzen dauern und wo die Mitte liegt.
In dem Buch Kollaps von Jared Diamond findet sich der Hinweis, bei Inuit-Frauen sei die Muttermilch so hoch mit PCB (polychloriertem Biphenylen) belastet, daß sie bei uns als Giftabfall eingestuft würde. Die Inuit ernähren sich hauptsächlich von Walen, Robben und Seevögeln, die ihrerseits verseuchte Fische, Muscheln und Krebse fressen, wobei auf jeder höheren Stufe der Nahrungskette eine
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