Zeilen und Tage
vermag: Sie hat sich auf ein Spiel eingelassen, das sie auf Dauer nur verlieren kann: Solange sich Ungleichheit in die Rhetorik der Gleichheit hüllt und Vorrechte sich in die Form von allgemeinen Rechten kleiden, zieht das System unvermeidlich eine Konfliktwelle nach der anderen heran.
Das logische Fazit der chronischen Prozeßform sozialen Protests haben kürzlich die Studenten präsentiert, die bei ihren Demonstrationen für die Verbesserung des deutschen Bildungssystems im letzten Juni ein Banner mit der Aufschrift »Reiche Eltern für alle!« mit sich führten.
Ulrich Beck ist in seinem heutigen Aufsatz in der Frankfurter Rundschau e ine Wortprägung gelungen, die Aufmerksamkeit verdient. Wenn sich die Mächtigen bei ihren Weltgipfelkonferenzen den beliebten Formatierungsspielen hingeben: G-2, G-8, G-13, G-20 usw., dann geht es, sagt Beck, dem evidenten Halbernst dieser Veranstaltungen zum Trotz, um die »Resthoffnung« für eine Welt am Abgrund. Nachdem sich Ernst Bloch von Hans Jonas zurechtweisen lassen mußte, der ihm das »Prinzip Verantwortung« entgegenhielt, sieht er sich jetzt auch mit dem »Prinzip Resthoffnung« konfrontiert.
4. Oktober, Karlsruhe
Jean-Luc Nancy, Le toucher , 2000: Selbstvergewisserung eines Philosophen nach einer Herztransplantation. Die Grundidee des Versuchs ist unabweisbar, wenn auch nicht neu: Solange der Primat der logos-affinen Fernsinne Sehen und Hören in Kraft ist, bleiben Fühlen, Spüren, Berühren ein dunkler Rest, der vor den Toren der Vernunftstadt abgelagert wird. Und wenn er dennoch in den Kernbereich eingelassen werden müßte? Ulrich Pothast hat vor zwanzig Jahren in seinem schönen Philosophischen Buch dargelegt, wie dem »Spüren« ein würdigerer Ort im bewußten Leben zu geben wäre. Vielleicht entwickeln sich hieraus eines Tages philosophische Zugänge zu dem, was der holländische Perinatalist Frans Veldmann Haptonomie nannte – eine heilende Disziplin, die auf der Unterscheidung zwischen zwei divergierenden Arten des In-der-Welt-Seins beruht, einer, die zur Ausbildung eines »Verteidigungskörpers« führt, und einer anderen, die auf der Entfaltung eines »Berührungskörpers« beruht. Nun fängt man also an, den Begriff Weltoffenheit vom Organischen her zu denken.
Joseph Cohen, der Derrida nahe war, gibt Hinweise auf dessen in seinen späteren Jahren erwachtes Interesse am Begriff »Hoffnung«.
6. Oktober, Neapel
Abends im Hotel in Gesellschaft von Marguerite Derrida, Maurizio Ferraris und anderen.
7. Oktober, Neapel
Der Denker im Spukschloß. Über Derridas Traumdeutung. Der Vortrag am Istituto per gli studi filosofici, der mich in den letzten sechs Wochen beschäftigt hatte, findet bei den Hörern des Symposiums Derrida’s Ghost: Five Years After His Death lebhafte Resonanz. Es freut mich, Roberto Esposito wiederzutreffen, in dem ich seit seinem Buch Immunitas. Schutz und Negation des Lebens , 2002, einen Mitstreiter bei dem Projekt einer immunologischen Neuformulierung klassischer Fragen sehe.
11. Oktober, Freiburg
Lesung aus Du mußt dein Leben ändern vor 800 Hörern im Stadttheater. In dieser Stadt knistert immer der Boden unter den Füßen.
16. Oktober, Linz
Im modernen Kongreßzentrum vor einem Publikum aus Konsultanten, Managern, Geschäftsleuten und Wirtschaftswissenschaftlern ein weitgehend improvisierter Vortrag über den Matthäus-Effekt, den ich als naive Vorwegnahme des trainingstheoretisch reformulierbaren circulus virtuosus interpretierte. Nach dem folgt aus Können weiteres Können, aus Erfolg weiterer Erfolg, aus Bekanntheit noch mehr Bekanntheit. Was positiv ist, erzeugt selbstverstärkende Wirbel. Der jesuanische Spruchliefert eine untechnische Version des Prinzips der »positiven Rückkopplung«. Unmittelbar einleuchtend werden das nur die finden, die aus eigener Erfahrung wissen, was der Satz: »Wer hat, dem wird gegeben werden«, bedeutet. Die anderen, die außerhalb der Steigerungszonen existieren, werden sagen, Jesus redet wie ein Neoliberaler.
Ein Autor namens Matthew Lynn berichtet im Spectator : Aktuelle wirtschaftspsychologische Forschung liefert Indizien dafür, daß Jugendliche, die in ihren formativen Jahren ökonomische Rezessionen erlebt haben, zeitlebens davon überzeugt bleiben, der Faktor Glück bzw. Zufall sei bedeutender für Lebenserfolg als die eigene Anstrengung. Die recession babies denken positiver über Steuererhöhungen als Jugendliche, die in der Prosperität heranwuchsen. Sie bejahen die staatliche
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