Zeilen und Tage
Gesellschaftskritik angegriffen zu werden, als wäre er Vorsprecher einer Reichen-Mafia, die ihr Vermögen durch das Aussaugen der Arbeitslosen verdient hat.
Die Wirklichkeit ist bizarr genug, um auch für eine abwegige Idee wie diese ein paar Indizien zu liefern: Manche Beiträger zur aktuellen »Debatte«, darunter Groys, argumentieren so, als sei es das Geheimnis des gegenwärtigen Systems, daß das große Geld aus den Taschen der Arbeitslosen auf die Konten der Milliardäre geschaufelt wird. Einige Kommentatoren haben sich darauf spezialisiert, diese halluzinatorische Transaktion als »Umverteilung von unten nach oben« zu kritisieren. Ist es gleich Wahnsinn, hat es doch Methode – und Geschichte. Natürlich läuft der staatlich gelenkte Geldstrom in die entgegengesetzte Richtung: Die öffentliche Hand verteilt das der aktiven Mitte abgenommene Geld nach unten – zu den Armeen der Rentner, jetzt 20 Millionen Personen, und zu den Einwohnern des verfestigten Sozialhilfe-Raums, der hierzulande kaum je weniger als 8 Millionen Personen umfaßt. Die geborgte Kaufkraft dieser Schichten fließt unvermeidlich auch nach oben ab – und in diesem Sinn ist es wahr, daß Hartz-IV-Empfänger die Aldi-Brüder reich machen.
11. November, Den Haag
Gestern abend: ein intimes Dinner in der Haager Stadtresidenz von Königin Beatrix in Gegenwart von 12 Personen. Dem Gast zuliebe werden die Gespräche bei Tisch auf deutsch geführt, die Königin spricht es ausgezeichnet. Eindrucksvoll ihr diskreter Athletismus in der Konversation, der es ihr erlaubt, an jeden einzelnen Gast im richtigen Ton das Wort zu richten. Nicht die Pünktlichkeit, die Belastbarkeit ist die Höflichkeit der Könige.
Mittags ergibt sich eine Gelegenheit, durch das soeben renovierte Stadtschloß von Amsterdam geführt zu werden. Die imposanten Zimmermannsarbeiten der Dachstühle machen die handwerkliche Verwandtschaft zwischen Palastbau und Schiffsbau evident. Wir steigen bis zum Dach mit dem Glockenspiel hinauf – dort sieht man im Freien, auf gleicher Höhe, den enormen Atlas, den man sonst nur von der Straße aufblickend wahrnimmt. Er trägt seine Weltkugel mit so weit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, als hätte die Bildhauer die Synthese aus einem Titanen und einem Gekreuzigten im Sinn gehabt.
Königin Beatrix stellt beim Dinner im Stadtpalast die Frage, wie es komme, daß gerade die »idealistische« Odenwaldschule so viele (wie viele?) Nazis hervorgebracht habe. Da ich nicht weiß, an welche Personen sie im einzelnen denkt, kann ich nur eine abstrakte Vermutung formulieren: Wohl wegen der Gleichschaltung der Reformpädagogikschulen im Dritten Reich? Möglicherweise auch aufgrund einer gewissen Verwechselbarkeit zwischen den altruistisch-idealistischen Erziehungszielen der Reformer und dem groben politischen Holismus der NS-Rhetorik?
Der Hund pißt gegen das Reiterdenkmal, der Mensch öffnet sich seiner Bedeutung. Sagen die philosophischen Anthropologen. Sie sagen nicht, worauf Menschen schon gepißt haben.
Die hegelianische Sozialanthropologie gründet in dem Satz esse est agnosci, Sein meint Anerkanntsein – so hat es ein amerikanischer Hegel-Philologe in Anlehnung an Berkeley ausgedrückt. Das klingt beim ersten Hören nicht so übel. Vertieft man sich in die Sache, wird sichtbar, daß die Sentenz auf eine Modernisierung der These über das unglückliche Bewußtsein hinausläuft. Die formale Anerkennung des Bürgers als Teil des Souveräns im Rechtsstaat hat ja vor allem eine negative Funktion, indem sie ihn vor dem Rückfall in sklavische Positionen schützt. Positive Satisfaktion kann sie nicht bieten. Der Fortbestand privater Frustration ist mit der Gewährung von Anerkennung durch den allgemeinen Anderen vollkommen verträglich. Was nützt es, daß ich als Subjekt bürgerlicher Rechte anerkannt bin, wenn ich als begehrende Person auf meinen Frustrationen sitzenbleibe? Was hilft dir der deutsche Paß, wenn du als Wettbewerber abgehängt bist?
Ein nicht-unglückliches Bewußtsein kann es bei Hegel nur geben, wenn das Individuum sich als Lokal der absoluten Reflexion begreift. Sobald die Reflexion in sich selbst den Sonntag der Geschichte herbeiführt, schließt sie den Kreis und ist daheim – ob in Ithaka oder in Berlin-Mitte. Mit dem Problem der Anerkennung durch Andere hat das nur noch von ferne zu tun – die Bedingtheit von Selbstbewußtsein durch das Bewußtsein des Anderen ist allein auf den unteren Schleifen der Selbsterfassung des
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