Zeilen und Tage
»Wettbewerb« ist nur ein anderes Wort für ein Entwertungsrisiko, das bei ungeschickter Geschäftsführung aktuell wird. Es steht für einen Prozeß, in dem es regelmäßig zum Kollaps von schwächeren Eigentumspositionen kommt, und zwar am meisten dort, wo das Bewerberfeld breit ist. In Insolvenz gehen heißt unter kontrollierten Bedingungen verlieren. In unserem Debatten-Vokabular fehlt die Unterscheidung zwischen »Normalkrise« und »Systemkrise«. Da wir momentan beide Krisentypen gleichzeitig vor uns haben, sind die Verwechslungen chronisch. Genau diese Konfusion erzeugt die »antikapitalistische« Stimmung, die ihrerseits die Neigung zur Regression in Reflexe aus dem 19. Jahrhundert fördert.
Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall: Wer erinnert sich noch daran, daß es in der DDR viel mehr Armut gab als in den heutigen neuen Bundesländern, doch praktisch keinen Protest dagegen? Warum? Weil das geschlossene System hinter dem antiimperialistischen Schutzwall ein gleichmäßiges mildes Elend für alle sicherstellte, die Privilegierten eingeschlossen. Selbst an dem Staatsratsvorsitzenden konnte man eine beruhigende Armseligkeit wahrnehmen, die den Verdacht nicht aufkommen ließ, da wolle sich jemand nach oben absetzen. Das ganze Land warein Internat für unteres Kleinbürgertum, das sich in stiller Aussichtslosigkeit reproduzierte. Jedem Zögling der Anstalt wurde die Begegnung mit seinesgleichen auf Augenhöhe garantiert. Dramatisch nimmt das subjektive Armutsempfinden erst seit dem Augenblick zu, in dem die inzwischen objektiv viel besser Versorgten dem Dämon des Sichvergleichens mit Wohlhabenderen nachgeben. Der reale Sozialismus funktionierte wie ein Desinfektionsmittel, mit dem man den eigenen Haushalt von giftigen Unterschieden sauberhalten konnte.
Jeden Tag neue Beispiele für die Mentalseuche, die sich Neuro-Ethik nennt. Mir ist, als ob davon mein Bestrafungszentrum heftig aktiviert würde. Es schüttet jede Menge Ohrfeigenhormone aus, die leider nicht in entsprechenden Ausführungshandlungen abgebaut werden können.
Für Prominente wird das Zeitunglesen bald so riskant wie das abendliche S-Bahn-Fahren in München. Täglich wird irgendwer niedergeprügelt und sieht sich blutend auf einer Schlagzeile liegen.
Nun hat sich also auch Boris Groys in der Debatte der Zeit über Zwangssteuern oder Großzügigkeitssteuern zu Wort gemeldet. Leicht ist seine Aufgabe nicht, da er zwischen Gelegenheit und Freundschaft eine Mitte suchen muß. Er zieht sich aus der Affaire, indem er von seinen Vorräten an stalinistischen Ironien Gebrauch macht.
Aus seiner spät- und ewigmarxistischen Sicht ist der westliche »Staat« noch immer nichts anderes als das, was er unter den Zaren in Rußland war – eine Repressionsmaschine zur Verhinderung von Übergriffen der armen vielen auf den Reichtum der glücklichen wenigen. Boris ist seinen sowjetischen Prägungen treu geblieben. Ein Aufenthalt von 25 Jahren in Westdeutschland, der real existierenden Mittelstandsgesellschaft, in der 52% der Bevölkerung Eigentümer ihrer Wohnungen sind (im Saarland 63%), um von den breitgestreuten Sparguthaben, Wertpapierdepots und Versicherungen nicht zu reden, hat an seiner Sicht der Dinge weder empirisch noch theoretisch etwas geändert.
D’accord, daß man auch in den heutigen Transaktionen den Ausbeutungsaspekt nicht ganz vergessen darf. Anzumerken wäre: die Adresse der Ausgebeuteten lautet inzwischen anders als in den verflossenen Zeiten, als Grundherren die Arbeitskraft ihrer Leibeigenen abschöpften oder die Ruhrbarone die Leiden der Kumpel unter Tage. Wer wirklich wissen will, wem man heute das Fell über die Ohren zieht, kommt unvermeidlich bei den Mittelschichten an. Es ist die konsumintensive und steueraktive Mitte, in Deutschland aktuell 25 Millionen Haushalte, allen voran deren oberes Fünftel, die jetzt von oben und unten in die Zange genommen wird: einerseits von den Spekulanten auf den Kanalinseln, andererseits von den Organen der fiskalisch Unproduktiven. Die nicht-reiche Fraktion der Nicht-Armen trägt nahezu die ganze Last der öffentlichen Finanzen.
Unser politisches Vokabular legt uns veraltete Wörter in den Mund, weshalb wir an den Tatsachen vorbeireden. Die Verdrehtheit der überholten politischen Semantik läßt sich unter anderem an der Verbissenheit ablesen, mit der gewisse Sprachspiele von vorgestern verteidigt werden. Wer an die Leistungen der Mitte erinnert, riskiert es, von den Veteranenvereinen der
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