Zeilen und Tage
Insel gebracht wurde. Erwachend weiß er nicht, wo er ist und wie ihm geschieht. Das übrige erklärt sich aus der Tatsache, daß der Mensch meistens zu stumpf ist, um an seiner Situation zu verzweifeln.
Die Debatte über den Nackt-Scanner verrät, wohin in psycho-politischer Sicht die Reise geht. Das Streben nach Hypersicherheit führt Schritt für Schritt in den vollendeten Erniedrigungsegalitarismus. Betrüblich, daß es diesmal die Niederländer sind, die in der Sache vorangehen.
6. Januar, Wien
Lebedamen-Marketing 1853: Aus Marguerite Gautier wird in Italien Violetta Valéry. Ansonsten bleiben die Anforderungen die gleichen. Wenn es darum geht, flüchtige Sympathien in bezahlte Seufzer umzuwandeln, muß die Dame so leistungsfähig sein wie die Besten ihres Fachs.
Camus: »L’écrivain n’est pas engagé, il est embarqué.« Der Künstler sitzt auf der Galeere seiner Zeit, rudern muß er wie die übrigen, doch wird von ihm erwartet, schöpferisch zu rudern.
Bewußtseine kann man mit Befestigungsanlagen vergleichen, auf denen die Dummheit Wache hält.
8. Januar, Wien
Hannah Arendt notiert in ihrem Denktagebuch 1, 364, der Begriff »säkulare Religion« sei unsinnig, weil ihm das eigentlich politische Element der Religion fehlt: das Motiv von Lohn und Strafe nach dem Tode. Arendt weiß noch nichts von der postmodernen Religion, die zu einem Merkmal individualisierter mentaler Diät werden sollte. Das hilft der Philosophin, Hellsicht zu bewahren hinsichtlich der Funktion von Religion auf dem Höhepunkt ihrer Stärke. Eine Religion ist so lange mächtig, wie sie fähig ist, Furcht zu erregen. Solange die Religion für die Erzwingung von Konformität in größeren politischen Komplexen zuständig bleibt, ist sie wesenhaft Phobokratie.
Was Arendt »Totalitarismus« nannte, war Phobokratie ohne Gott. Mag also der Ausdruck »säkulare Religion« der Sachlage nicht ganz angemessen sein, im entscheidenden Punkt trifft er ins Schwarze – vorausgesetzt, man erinnert sich an das ancien régime des Glaubens, in dem Religion synonym war mit Erzwingung der Zustimmung durch die richtig dosierte Furcht. Der säkulare Staatsterrorismus war die letzte Orthodoxie.
Im übrigen erteilt auch Arendt dem kontemplativen Ideal eine Absage, indem sie die Lebensgrundlagen des beschaulichen Daseins in Parasitentum und Tyrannei erkennen möchte – zu diesem Thema hat man schon weniger Grobes gehört.
Arendts politische »Philosophie« läßt sich mit zwei Wörtern wiedergeben: Pro doxa! Oder mit dreien: Meinen ist gut. In diesen Thesen ist die Lossagung von Plato mitgedacht. Plato hatte das reine »es erscheint« an die Stelle des »es scheint mir« setzen wollen – mit dem Ergebnis, daß am Ende jede Verbrecherbande vorgeben konnte, die objektive Wahrheit zu haben.
9. Januar, Karlsruhe
»Auf Zeremonie läuft alles hinaus …«
(Hofmannsthal, Von der Pantomime )
»Nur wer reich ist, kann vollends einfach sein.«
(Hofmannsthal zur Odyssee -Übersetzung von R. A. Schröder)
Über den anti-anthropologischen Affekt: Aus bloßer Furcht, es könnten irgendwelche natürlichen Konstanten ans Licht kommen, ja, es möchte sich gar so etwas wie eine »menschliche Natur« erweisen lassen, ziehen die Zukunftsfreunde den Vorhang zu und dekretieren: der Mensch ist ein feudales Vorurteil und eigentlich nur eine Erfindung von Reaktionären. Allein in negativen Aussagen darf man von ihm sprechen. Da sitzt es nun, das nicht festgestellte Tier der negativen Anthropologie, und muß fasten bis zur Eigenschaftslosigkeit. Selbst wenn bei ihm Angeborenes konstatierbar wäre, für die Zukunftsfreunde besäße es keine Autorität, denn in ihren Augen ist auch die Natur eine Feudalmacht, gegen die man sich nicht weniger auflehnen muß als gegen den Adel.
Noch einmal zur Restauration der Meinung bei Hannah Arendt und Heinrich Blücher: Alles, was nach 1945 in deutscher Sprache an Kommunikationsphilosophie geschrieben wurde, kommt von der Rückbesinnung auf die möglicherweise produktive Konfrontation von Rede und Gegenrede her. Nach der Diktatur hatte man wieder etwas übrig für das geringere Übel, das man in der Weimarer Republik leichtfertig für das größere gehalten hatte: Das weniger schlechte Gemeinwesen soll künftig vom häßlichen, aber lebendigen Streit der rehabilitierten »Meinungen« leben. Wie in Athen also auch in Washington – und warum nicht in Bonn? In Wahrheit war die Wende zu Meinung, Streit und Kommunikation eine politische
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