Zeilen und Tage
Romantik, bei der man sich hütete, das Wort »Interessen« zu erwähnen.
11. Januar, Karlsruhe
Aus dem Silvestermüll: Wenn du drei Wünsche frei hast: Verschenke zwei und benutze den dritten, um zu wünschen, wunschlos zu bleiben.
12. Januar, Karlsruhe
Eric Rohmer, der gestern gestorben ist, gehörte zum Typus der Künstler, die man mochte, weil von ihnen keine Nötigung ausging, sie zu überschätzen. Er war ein Mann, der für eine Weile die Suggestion am Leben hielt, das genaue Hinsehen sei eine Tugend der Linken – bis die Eiferer bemerkten, daß seine zarte Empirie ihre Illusionen nicht schonte. Er war der Beobachter-Cineast par excellence, der die invasive Psychologie scheute – deswegen hatte er die Großaufnahme aus seinem filmischen Repertoire verbannt. Seine Arbeiten verbreiteten die freundliche Botschaft, eine Kamera sei dazu da, jungen Leuten bei ihren Suchbewegungen zuzuschauen. Bei ihm war die Ergebnislosigkeit der Bewegungen selbst ein Ergebnis.
Was religio am Anfang meinte: Die Römer wußten, daß für die Ernsthaftigkeit verträgeschließender Parteien die stärksten Garantien gerade gut genug sind. Folglich wandten sie sich an höhere Instanzen, um ihre Eide heilig zu machen. Soll der Satz »pacta sunt servanda« gelten, müssen die Bündnisse bei den Göttern beschworen sein. Im Schwur wird das Seelenheil des Eidleistenden feierlich verpfändet. Richtig schwören kann daher nur der Mensch, der Meineidfolgen wie die Hölle fürchtet.
Damit liegt der phobokratische Kern der religio wieder offen zutage. Im wesentlichen Punkt waren Plato, Cicero und Augustinus sich einig: Ohne die Androhung der Höllenstrafen kann die menschliche Gemeinschaft in großen Verbänden nicht zusammen leben. Vor lauter politischer Theologie hat man heute vergessen, das vormals Entscheidende klarzustellen: Von den Pharaonen bis zu den Zaren – in den Imperien und Königsherrschaften ist die Hölle ein Verfassungsorgan. Nach dem Übergang zur Demokratie liefern die Massenmedien das funktionale Äquivalent der Hölle.
Religion und Recht operieren beide innerhalb der Logik der Entschädigung: Wo damnum war, soll indemnitas werden.
Ius geht zunächst nur so weit wie das iurare reicht. Etwas vom Recht wissen und etwas vom Schwur wissen sind bis hierher dasselbe. In seinen Anfängen umfaßt das Recht nicht mehr als das Gebiet der schwörbaren Dinge. An ihrer Basis ist die res publica eine Eidgenossenschaft, deren Angehörige gelobt haben, gegenseitig für die Unverletztheit ihrer Lebenszusammenhänge einzutreten.
Im heutigen Bewußtsein sind diese Orientierungen so gut wie restlos verlorengegangen. Der entfremdete Staat betrachtet die Bürger als Manipulationsmasse, als Protestrisiko und als Steuernummern. Der entfremdete Staatsbürger empfindet sich nicht mehr als Eidgenossen, der ein persönlich geschworenes Bündnis mitträgt. Er agiert als Antragsteller, der aus den Garantien des Gemeinwesens mehr herausholen will, als er in es hineingelegt hat.
13. Januar, Karlsruhe
Nach dem gestrigen Erdbeben in Haiti quellen alle Medien von schrecklichen Bildern über. Die erste Reaktion ist wie immer hilfloses Helfenwollen. Es folgen wie üblich die praktischen Regungen mit eingeblendeten Spendenkonten und Hilfszusagen der Regierungen.
Aus unserem Dorf in der Provence erreicht mich verspätet die schlimmste Nachricht: Bei Michel war im Spätsommer ein aggressiver Krebs diagnostiziert worden, bei dem jede Art von Behandlung zu spät kam. Die Monate bis zu seinem Tod im November müssen für alle, die in der Nähe waren, ein Albtraum gewesen sein. Ich hatte ihn für gleichaltrig gehalten, nun erfahre ich, er sei schon Anfang 70 gewesen.
15. Januar, Karlsruhe
»So wahr mir Gott helfe.« Wie, wenn der Himmel im Eid erzeugt wird? Genau das liegt im römischen Begriff religio enthalten, den heute kein Mensch mehr richtig versteht. Er meint das Mehr, das bemüht werden muß, wenn ein Eid verbindlicher sein soll als eine profane Absichtserklärung. In dieses Mehr ist alles mögliche eingemischt: Furcht, Hoffnung, Schwärmerei, vor allem aber der gute Wille, zu glauben, die Götter seien wirklich so, wie ihre hohen Attribute sie beschreiben: Wenn sie aber so sind, wie wir glauben wollen, daß sie seien, dann sollte unsere Treue zum Protokoll des Umgangs mit ihnen – eben die religio – ausreichen, um ihre Gegentreue sicherzustellen. Bei aller Souveränität muß der Gott ein verläßlicher Alliierter sein. Er darf nicht jener
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