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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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organisierten Branche. Solange sie nicht ideologisch überdreht sind, bemühen sich Betriebsräte, diese Erkenntnis zu verkörpern. Sind sie intelligent, halten sie die Mitte zwischen Klasse und Klientel.
10. Februar, Karlsruhe
    Diskursklassengesellschaft. Nach oben wird zitiert, nach unten wird abgeschrieben.
    In der Causa Helene Hegemann wurde von den neuen Abschreibern eine feinsinnige Unterscheidung eingeführt – zwischen der Sharing-Kultur des Internets und der Besitz-Kultur des Feuilletons. Das wäre keine ganz dumme Differenz, wenn nur nicht bekannt geworden wäre, daß das smarte Mädchen aus einem Buch abgeschrieben hat, das sie sich über amazon hatte kommen lassen.
    Was man Geistesgeschichte nennt, beruht auf der Illusion der Rückwärtskompatibilität von Ideen.
15. Februar, Karlsruhe
    Die conditio humana war im Zeitalter vor der elektronischen Globalisierung durch ein Phänomen determiniert, das man Empathie-Splitting nennen könnte: Einfühlung in die Nahbereichsgesellschaft, Empathieverweigerung für die fernen Gattungsgenossen. Diese Splitting-Gewohnheiten werden durch die Globalisierung des Empathieverhaltens zunehmend außer Kraft gesetzt. Jetzt kennen die Tele-Empathien keine Schranken mehr – außer ihrer eigenen Inkohärenz und Flüchtigkeit.
17. Februar, Wien
    »Und nehmen das Geheimnis der Dinge auf uns, als wären wir Gottes Spione.« King Lear
    Nach Mario Praz sind die großen Autoren Hochverräter an ihrer eigenen Zeit. Sie verraten die Aufregungen ihrer Epoche an die Welt der bleibenden Formen.
19. Februar, Berlin
    Im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden, gleich neben der Humboldt-Universität, ging abends ab halb acht dieEröffnungsveranstaltung für die von Wolfgang Ullrich kuratierte Ausstellung Macht zeigen in Gegenwart von tout Berlin über die Bühne. Der überdachte Innenhof des Museums war mit 650 Stühlen bestückt, die schon vor Beginn der Veranstaltung besetzt waren, so daß über 200 Personen dem Vorgang nur stehend beiwohnen konnten.
    Die Karlsruher Präsenz war an diesem Hauptstadtabend überdeutlich. Die Kontrapunktik zwischen Ullrichs Exposé und meinen Bildmeditationen zu dem Motiv »Souverän ist, wer über das Weltbild entscheidet« – anhand von Bildmaterial aus Sphären II – gab dem Publikum eine lösbare Denkaufgabe mit auf den Weg. Ich sah die Botschafter von Frankreich und den Niederlanden im Publikum, fünf weitere Botschafter sollen präsent gewesen sein, darunter der von Afghanistan. Rolf Hochhuth ist da, Thierse, Hans-Jürgen Heinrich in Begleitung von Oya Erdogan, der schönsten aller möglichen türkischen Philosophinnen, die ein außerordentliches Buch über das Element Wasser geschrieben hat.
    Size is the message. Die Hersteller von Kondomen haben herausgefunden, daß die kleinste Größe im Sortiment nur unter der Bezeichnung Large an den Mann zu bringen ist. Die Kunden dieses Guts sind strukturell unfähig, die Größenangaben Medium oder Small auf sich selbst zu beziehen. Medium muß Extra-Large heißen. Das übliche Large-Format bringt ein semantisches Problem mit sich, da man es entweder mit Triple X Large oder mit Extraterrestrisch markieren muß.
20. Februar, Wien
    Woher kommt der Eindruck, die asiatische Weisheit sei tiefer als die westliche? Wo die okzidentale Metaphysik auf Unsterblichkeit setzt, zielt die östliche Ambition auf Ungeborenheit. Wer den Unterschied zwischen ungeboren und unsterblich ausführlich genug erklären könnte, wäre der erste, der sich den Titel Religionsphilosoph verdiente.
21. Februar, Wien
    Wer heute von Populismus redet, bedenkt meistens nicht, daß dieser in der Sache eine herrschaftstechnische Erfindung der Caesaren war. Diese schwankten bei der Ausübung ihrer Alleinherrschaft zwischen der Nähe zum Senat und der zum Volk von Rom. Der erste systematische Populist scheint Nero gewesen zu sein, der sich aufgrund seiner senatsfeindlichen Neigungen und in seinem anti-aristokratischen Furor an das Volk zu wenden liebte, um es auf seine Seite zu ziehen. Ihm war episodisch Caligula vorangegangen, dessen bekannteste Maßnahme zur Verhöhnung des Senats in der Ankündigung bestanden hatte, er wolle sein Lieblingspferd zum Senator ernennen lassen. Populismen gehen von Anfang an mit Elitendiffamierung einher. Das Grundschema ist immer das gleiche: der einsame Nichtskönner an der Spitze der Bewegung gemeinsam mit dem Pöbel gegen die erfahrenen Leute, denen man die Anmaßung des Könnens nicht vergibt.
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