Zeilen und Tage
Abgrund an Unberechenbarkeit werden, als den die überhitzten Theologen des spätmittelalterlichen Christentums und des Islams ihn präsentierten.
Was heißt: »Wiederkehr der Religion«? Man könnte die Formel als Titel für ein Entschädigungsverfahren auffassen, dessen erster Anklagepunkt lautet: Wir, die Modernen, die Gottfreien, die metaphysisch Unversicherten, sind bei der Abschaffung der transzendenten Eidverankerung zu weit gegangen. Wenn wir wollen, daß Unbeschädigtes, Heiles, Glückliches auch künftig möglich sein soll, müssen wir Entschädigung leisten für unseren Raubbau am Guten. Es wäre an der Zeit, unsere überzogenen Kontenbeim Wahren, Schönen, Gutgeratenen auszugleichen. Das wäre kein Rückfall in den Platoismus, sondern der Versuch, die Voraussetzungen für das Dasein in einer erweiterten Eidgenossenschaft wiederherzustellen.
In dem gemeinsam mit Vattimo edierten Buch Die Religion konstatiert Derrida die angebliche imperiale Mission der lateinischen Sprachen: Er spricht von »Mundialatinisierung«. Wie so oft erlebt man Derrida in diesem Essay auf zeitraubende Weise klug, aber auch auf erstaunliche Weise neben dem Punkt, denn wenn es heute eine effektive Weltsprache gibt, dann ist es das nicht-lateinische Englisch, und wenn es nach der Zahl der native speakers ginge, läge Han-Chinesisch auf dem ersten Platz.
17. Januar, Karlsruhe
»Causa multis moriendi fuit morbum suum nosse.«
(Seneca, de senectute 18, 6) Die eigene Krankheit zu kennen gereichte vielen zur Todesursache.
Max Bense, Ptolemäer und Mauretanier , 1984, S. 93.
»Ich sehe in Benn noch immer den schillernden Vertikalisten und in Jünger noch immer den schillernden Horizontalisten.«
21. Januar, Berlin
Beim Empfang der Berliner Zeitung ein langes Gespräch mit Martina Gedeck, als ob es die Fortsetzung einer alten Liebe wäre.
26. Januar, Zürich
Wie man öffentlicher Anfeindung standhält? Erinnere dich an den Zustand, in dem du dich befandest, bevor du in der Zeitung lesen durftest, daß du ein Schwein bist.
31. Januar, Karlsruhe
»Elend« ist ohne Zweifel eines der schönsten Wörter der deutschen Sprache. Wie alle unbegreiflich schönen Wörter wirkt es wie aus einer fremden Sprache entlehnt. Man könnte sich vorstellen, wie die wandernden Hirten der ungarischen Tiefebene eines Tages am Horizont ein Gebirge auftauchen sehen. Sie deuten darauf und rufen: elend! elend! Oder Eskimos entdecken im flüchtigen Sommer zufällig ein Stück eisfreien Bodens und rufen entzückt: elend! elend! Die Deutschen geben sich damit zufrieden, an einen Ort außerhalb der Heimat zu denken, und schon kommt ihnen das Wort »Elend« auf die Lippen.
Für uns ist das der Urmeter der Synonymie: Können zwei verschiedene Wörter dasselbe bedeuten, dann in dem Maß, wie sie sich die ursprüngliche Gleichbedeutung von Elend und Ausland zum Vorbild nehmen.
Mit Patrice Bollon vom Magazine littéraire ein langes Interview, in dem ich erkläre, warum die Philosophie es riskieren sollte, wieder »erbaulich« zu werden.
4. Februar, Karlsruhe
Wenn Max Bense sagt, der wirkliche Intellektuelle wisse, daß »Denken nur Geist hervorbringen kann« ( Technische Existenz , S. 101), so wählt er eine puristische Definition. Der engagierteIntellektuelle verachtet alles, was »nur Geist« ist, und strebt nach den unreinen Anwendungen.
Hätte Jesus bei der Kreuzigung außer der Dornenkrone eine Brille getragen, die ihm als Intellektuellen zugestanden hätte, wüßte man heute besser, daß die Menschwerdung die Accessoires einschließt – besser, sie ist ohne die technischen Daseinshilfen nicht zu denken.
Wie Optiker heute geopolitisch denken, geht aus einer Berechnung des Branchenverbands hervor, wonach in der Welt heute eine Milliarde Brillen zu günstigen Preisen fehlen. Niederländische Initiativen arbeiten daran, die Lücke zu schließen.
Ob nicht der »Kapitalismus« immer auch eine Art von Klientelismus einschließt? Mitarbeiter in Betrieben wären dann bis zu einem gewissen Grad Gefolgschaften, die verstanden haben sollten, in welchem Maß die Bereicherung des Schutzherrn die Bedingung für die Sicherstellung ihrer Interessen bietet. Was man das »Klassenbewußtsein« genannt hat, ist demnach eine Falle, in die die Klientel eines erfolgreichen Patrons auf keinen Fall laufen darf, solange sie begreift, daß ihr eigenes Schicksal ebenso am Glück und Unglück des direkten Schutzherrn hängt wie an der Solidarität mit den Kollegen der gewerkschaftlich
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