Zeilen und Tage
Rezeption fand man es endlich heraus: Extremismus war eine Vortragsbezeichnung in der Art von fortissimo oder sempre più mosso.
Groucho Marx:
– »Der Müllmann ist da.«
– »Sag ihm, wir brauchen nichts.«
Gustav Seibt erinnert daran, daß auf dem Gebiet des Kirchenstaats bis 1870 keine protestantische Kirche errichtet werden durfte. In seinem heiligen Zweifrontenkrieg gegen Protestantismus und Modernismus meinte Rom, es sei ein Gebot der Treue zum Auftrag des Evangeliums, vor dem Neuen keinen Millimeter zurückzuweichen. Die Kaiserin Maria Theresia, ganz fromme Tochter der römischen Kirche, verbot ihren Untertanen das Erlernen des Englischen, weil in dieser Sprache zu viele gefährliche Schriften verfaßt worden waren.
Wer hat gesagt, Religion sei in neuerer Zeit nur ein Aspekt des Lebens unter anderen und greife nicht nach dem ganzen Menschen? Für die Zuschauer mochte das gelten, nicht für die Leistungsgläubigen, die ihre täglichen Übungen nicht versäumen.
Mittags mit dem Taxi in die niederländische Botschaft, wo eine Dame mit anregenden Locken die Aufgabe übernahm, mir eine Führung durch das Haus zu geben. Die Bau-Idee erschließt sich im Lauf einer aufwärts führenden promenade architecturale – bis hinauf zu der Sonnenterrasse, die im Sommer den am besten frequentierten Teil des Gebäudes ausmacht. Danach mit dem Botschafter ins Borchardt. Herr Krops zieht es vor, die Botschaft nicht zu bewohnen, er benutzt sie ausschließlich als Arbeitsplatz.
15. Dezember, Berlin
In der lokalen Subkulturszene macht ein Wort wie »Nobelkarossentod« die Runde.
Die Niederländerin, die mir gestern die Führung gegeben hatte, erwähnte, von mir auf ihre Locken angesprochen, die Thailänder, die das Phänomen bei sich nicht kennen, nennen sie »krumme Haare«. Ich nehme mir vor, das Motiv in meinem Münchener Versuch über das Entzücken im kommenden Sommer auszuführen.
Zwei Kapitel in Masud Khans Buch Erfahrungen im Möglichkeitsraum ( Hidden Selves ). Die Anwendung seiner sehr Winnicott-inspirierten Überlegungen auf ostdeutsche Verhältnisse drängt sich auf. Die alte DDR hatte massenhaft die Persönlichkeitsstörungen erzeugt, als deren Therapieanstalt sie sich anbot, indem sie vorgab, die holding structure für labile Genossen zu sein. Nach dem Kollaps fielen viele Patienten-Bürger der neuen Haltlosigkeit zum Opfer, als deren Ursache man die westliche Kälte identifizieren wollte.
17. Dezember, Karlsruhe
Die Welt bringt heute in voller Länge die Kopenhagener Rede, die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgewiesen worden war, weil sie vorgeblich zu viel Platz gefordert hätte. Im Perlentaucher wird sie integral zur Verfügung gestellt, ohne eine Spur von vorheriger Anfrage beim Verfasser.
18. Dezember, Karlsruhe
Im Fernsehen die Filmversion von La Bohème mit Netrebko und Villazon. Diesmal fällt mir die realistische Komponente des Stücks mehr auf als die romantische – wahrscheinlich, weil der Film besser geeignet ist, Zustände zu beschreiben, in denen Armut und Krankheit den Vorrang behaupten vor illusorischem Elan. Nie zuvor hatte ich das trostlos humoristische Lied desKünstlers auf seinen alten ehrlichen Mantel beachtet, der den Weg ins Pfandhaus gehen muß. Das Wort »herzzerreißend« ist manchmal keine bloße Redewendung, sondern ein Hinweis auf Gefühle, die durch das abwehrlose Mitansehen von Kläglichkeit hervorgerufen werden.
19. Dezember, Karlsruhe
»Im göttlichen Umfang werden Haut und Horizont identisch. In den warmen Nächten des Seins spürt das vereinzelte Leben sich inmitten der vitalen Kugel aufgelöst.« ( Globen , S. 613)
Aus den Tagesnachrichten geht das völlige Scheitern der Kopenhagener Konferenz hervor. Man weiß jetzt, was man ahnte: Es findet im Grunde keine gestaltende Regierung mehr statt, bloß noch Verwaltung abgleitender Zustände. Ob es nicht eines Tages zur Notwehr der Bürger gegen die unfähige Regierung kommen muß? Es wäre eine Rebellion neuen Typs, mit der die Regierenden zum Regieren gezwungen würden.
Auch Obamas Rolle blaß, ziellos und stillos, Zeremonienmeister bei einer Party von Desorientierten.
21. Dezember, Karlsruhe
Interview für die Süddeutsche Zeitung über das Kopenhagen-Debakel mit Andrian Kreye. Ich sage, ab jetzt tickt die Uhr für einen Aufstand der Bürger, die ihr Recht auf die Umsetzung von Einsichten in Regierungshandeln auf globaler Ebene einklagen.
23. Dezember, München
Im Residenztheater Alkestis von Euripides in
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