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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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einer fragwürdigen neuen Übersetzung von Raoul Schrott, inszeniert von Dieter Dorn, dessen Kunst gegen die Gehaltlosigkeit des Stücks für diesmal wehrlos blieb. Man versteht mit einem Mal Nietzsches scharfe Einwände gegen das Euripideische Theater, von dem er konstatierte, es spiegle die Zersetzung der Götterwelt durch die sokratische Aufklärung. Haltlose Menschen, hohle Götter und dubiose Schicksale, die sich kaum noch die Mühe machen, ihre Absurdität zu verbergen.
26. Dezember, Wien
    Die Zustände und die Wörter klaffen weiter auseinander denn je. Wie ein graues Gas schwebt das Bewußtsein über dem Gelände. Mit glasigen Augen schaust du durch die Wand, die Fernsehpriester bellen Frieden.
28. Dezember, Wien
    Essay
    Der Begriff Feind
    1 Von Carl Schmitt zu Derrida: Feind und Freund
    2 Schadensmächtige Andersheit: Zur immunologischen Ableitung des Effekts Feindschaft
    3 Hyperbolische Feindschaft: Der Faschismus als Restauration von Feindschaft angesichts der Neutralisierung
    4 Antagonistische Kooperation im Zeichen des wachsenden Bewußtseins von Ko-Immunität
    5 Letzte Feinde: Aliens und Unbelehrbare
28. Dezember, Wien
    Hofmannsthal über den Rosenkavalier : »Das Ganze ist halt eine Farce und nichts weiter.«
30. Dezember, Wien
    Ulrich Beck prognostiziert für das Jahr 2010 schwere soziale Unruhen, zumindest aber Tarifverhandlungen. Er rechnet unter die Virtuosen der vagen Rede, die es vorziehen, ungefähr recht zu behalten, als sich genau zu irren.
31. Dezember, Wien
    Traum. Ich bin wieder ein Läufer und laufe bei gutem Wetter die Marathonstrecke den Fluß entlang, leichtfüßig, ohne Ermüdung, bis ich vom Weg abkomme und mich in einem Stellwerk für Eisenbahnzüge verirre.
    Das Manuskript von Camus’ Roman Le premier homme soll aus dem Wrack von Gallimards Luxusauto geborgen worden sein, einem Facel Vega, in dem der Schriftsteller am 4. Januar 1960, vor fast genau 40 Jahren, verunglückte.
    In der Silvesternacht wieder auf dem Dach des Hauses Domgasse 8, wo früher die amerikanischen Botschafterin lebte. Man hört, sie sei jetzt in Afrika tätig. Von hier aus hat man den freiesten Blick auf den Glockenturm von Sankt Stephan. Um Mitternacht folgen die magischen Minuten, in denen die Pummerin hell beleuchtet in ihrem Gehäuse schwingt, während Radio und Fernsehen das Geläut ins ganze Land übertragen. Für wenige Minuten im Jahr ist die Glocke die Mitte eines Gemeinwesens, das ansonsten nicht so recht weiß, wodurch es zusammenhängt.
1. Januar, 2010
    Nach den großen Erzählungen : Beat Wyss überprüft in seinem neuen Buch die Suggestionen der Meisterdenker, die den Akteuren von 68 und der Jahre danach die Stichworte geliefert hatten. Gelegenheit, das Wintermärchen unserer Generation noch einmal zu erzählen.
    Wie war es möglich, daß die neo-autoritäre Bewegung jener Jahre als eine anti-autoritäre Bewegung in Erinnerung blieb? Wie konnte das Gift von 1933 in die Gemüter von 1968 transferiert werden? Durch welche Kurven fuhr die Familiengeisterbahn, die die Komplexe der Älteren auf die Jungen übertrug? Und wie kommt es, daß die Jungen glaubten, sie wollten das Gegenteil von dem, was die Älteren vorhatten?
2. Januar, Wien
    Das Konzept Heilschlaf oder künstliches Koma läßt sich auch auf Völker anwenden. Von 1945 bis in die Mitte der sechziger Jahre waren die beiden deutschen Staaten in einem komatösen Zustand, ebenso Österreich und die Mehrzahl der osteuropäischen Länder.
    In der Silvesternacht brannten in Frankreich wieder über 1100 Autos. Es gibt keine Partei im Land, die bereit wäre, diese »vandalischen« Akte in einen politischen Auftrag umzuformulieren. Die Hermeneutik der Gewalt scheint eine ausgestorbene Disziplin zu sein – man begnügt sich mit der Diagnose, Gewaltakte seien eben eine Erscheinungsform von Gewalttätigkeit als solcher, und diese sei wiederum die aktive Fortsetzung der Gewalt, die den Gewalttätigen passiv angetan wird, indem man ihnenkeine anderen Perspektiven bietet als die blinde Abreaktion ihrer Frustration. Die tautologische Implosion der sozialen Phantasie unterscheidet die heutige Intelligenz radikal von der nach 1968. Damals hätte sich eine Brigade von Interpreten freiwillig gemeldet, um den utopischen Gehalt der Brandstiftungen herauszuarbeiten, die ja unverkennbar den Hinweis auf eine klassenlose und autofreie Gesellschaft in sich tragen.
    Pascal vergleicht die Lage der Menschen mit der eines Entführten, der im Schlaf auf eine menschenleere

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