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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Das ist die Gesellschaft, die Voltaire in Kauf nahm, als er mit seinem Candide auf der antioptimistischen Welle surfte.
    Studien in anglophonen Ländern sollen festgestellt haben, Liberale – in unserer Terminologie Linke – hätten einen im Durchschnitt zehn Punkte höheren IQ als Konservative bzw. Rechte. Sie neigen stärker zu altruistischen Optionen, sprechen sich mehr für Welfare-State-Maßnahmen aus, höhere Steuern inklusive, sie wählen eher Grün und Liberaldemokratisch als Tories oder Labour. Zu der Korrelation zwischen Konservatismus und Minderintelligenz geben die Sozialpsychologen, mehrheitlich selbst Liberale, einen lakonischen Kommentar: Kein Wunder! Das konservative Syndrom offeriert den Individuen einen modus vivendi aus Stereotypen, der es ihnen nahelegt, ohne eigene Reflexion auszukommen. Ganz anders stehen die Dinge bei intellektuell herausragenden Konservativen: Bei ihnen sind des öfteren Züge von Hyperintelligenz zu beobachten, vermutlich, weil die konservative Intelligentsia ihre Thesen in doppelten Reflexionen absichert – sie ist, wie man schon an Edmund Burke bemerkte, ideologiekritisch disponiert und setzt die ausführliche Distanzierung von gegnerischen Doktrinen voraus. Auch Metternich studierte regelmäßig die liberale und sozialistische Publizistik seiner Zeit. Offen bleibt die Frage, ob die bemerkte IQ-Differenz, falls sie nicht Meßfehler spiegelt, auf milieuspezifische Trainingseffekte deutet oder ob dabei auch genetische Dispositionen zu politischen Einstellungen auftauchen.
    Bei den Leibnizianern wird die Tugendlehre als scientia felicitatis definiert – was an die Zeit erinnert, als es nicht nur schöne Kunst gab, sondern auch schöne Moral, ja sogar schöne Wissenschaft.
    Heiner Geißler, Absolvent des Gymnasiums von St. Blasien, sorgt in der Polemik um Guido Westerwelles Vergleich des heutigen Sozialstaats mit Zuständen römischer Dekadenz für Heiterkeit: Er erinnert an den Kaiser Caligula, der das Gerücht verbreiten ließ, er wolle sein Lieblingspferd zum Senator ernennen. Geißlers Humanistengedächtnis kommt dabei zoologisch ins Straucheln, da er das Pferd mit einem Esel verwechselt. Wie man strauchelnd ins Ziel kommen kann, zeigt sich an seiner Pointe, die BRD habe einen Esel als Außenminister.
    Das Wort »caelibatus« (Ehelosigkeit) ist bei den Römern der frühen Kaiserzeit ein juristischer Terminus, der die Unfähigkeit, Erbschaften anzutreten, feststellt. Den Hintergrund dieses Rechtsinstituts bildet die seit Augustus gültige Ehepflicht, die eine Verheiratung aller Erwachsenen bis zum 25. Jahr vorsah. Was im übrigen für das erwachende demographische Bewußtsein bei den Politikern des 1. Jahrhunderts nach Christus zeugt. Augustus mußte einsehen, daß seine Heiratsgesetze ihr Ziel verfehlten, da sich die Bürger Roms vom Staat nicht zur Fortpflanzung nötigen ließen.
2. März, Berlin
    Zu seinem 80. Geburtstag hat sich Heiner Geißler, seltsam genug, statt einer Galaveranstaltung mit den Notabeln von Partei und Wirtschaft ein Podiumsgespräch mit mir über Gott und die Welt gewünscht, und so soll es morgen Abend in der Zentrale seiner Partei in Berlin Mitte geschehen.
    Es wäre keine schlechte Idee, die Einleitung zu Die nehmende Hand und die gebende Seite in einen Traktat über die Umstimmung der »Gesellschaft« umzuschreiben, ausgehend von Spinozas Affektenlehre, bei der amor und generositas ins Zentrum gerückt werden.
    Die Weltmacht Betrug klettert die Erfolgsleiter empor: Nach den Firmen, den Fonds, den Banken sind nun die Staaten an der Reihe. Der Fall Griechenland zeigt, wie systematisch die Irreführung betrieben und geduldet wurde: Sie begann mit dem EU-Beitrittsbetrug, setzte sich in chronischen Staatsbilanzfälschungen fort und kulminiert in den aktuellen Versuchen der Insolvenzverschleierung, bei der die Partnerländer der Euro-Zone als Komplizen herangezogen werden.
    Der Diskussionsabend im Adenauerhaus, der Bundesgeschäftsstelle der CDU, in die ich zuvor nie einen Fuß gesetzt hatte, verlief vor größerem Publikum und in Anwesenheit der Kanzlerin bemerkenswert konstruktiv, wenn nicht sogar bedenklich harmonisch. In ihr bekräftigte Heiner Geißler die eigene Position als weißer Rabe seiner Partei.
    Einige Aufmerksamkeit fand meine These, daß Politik an die Tragödie grenzt, sofern es in ihr Situationen gibt, in denen man nur zwischen Übeln wählen kann. Ich erläutere das an den Optionen des Westens im Afghanistankrieg: Bleiben die

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