Zeilen und Tage
Februar, Wien
In der Zeitung die Nachricht, der ehemalige Schillerplatz-Kollege Gironcoli sei gestorben.
23. Februar, Wien
Ständig passiert es, wohin man auch sieht. Gleichaltrige oder nur wenig Ältere sterben dahin, andere liegen in der Klinik, lassen sich operieren, erholen sich, zögern Eingriffe hinaus. Allefür einen, einer für alle. Man läuft mit den alten Kameraden die Aschenbahn entlang, morituri unter sich, und ist froh, wenn man nicht unter den Schnellsten ist.
24. Februar, Wien
1531 publiziert Juan Louis Vives, der marranische Humanist, der im Jahr der Kolumbusfahrt geboren wurde, in Brügge sein Werk de tradendis disciplinis , in dem er die Neugründung der Wissenschaften aus dem Geist der Empirie postuliert. In de anima et vita , 1538, entwirft er eine Tätigkeitspsychologie im Anschluß an Aristoteles.
Im Jahr 1526 hatte er in seiner Schrift de subventione pauperum sive de humanis necessitatibus den Gedanken ausgeführt, Armenfürsorge sei nicht bloß Kirchensache, sondern eine Aufgabe des gesamten christlich inspirierten Staatswesens, ein Referenzwerk frühneuzeitlicher Sozialfürsorge.
25. Februar, Wien
In der künstlich klimatisierten Sphäre des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wachsen – wie in allen analogen Milieus – seltsame Weltfremdheiten heran. Eine davon manifestiert sich in dem am 3. November letzten Jahres publizierten Urteil, das den Anblick von Kruzifixen in Schulräumen als eine Verletzung des Prinzips der Religionsfreiheit bzw. der Weltanschauungsfreiheit im staatlich garantierten Unterricht statuiert. Daran läßt sich ablesen, wie ein mühevoll erkämpftes aufklärerisches Grundrecht zu einer staatlich geschützten Idiosynkrasie pervertiert wird – ausgedrückt in dem vermeintlichen Rechtsanspruch, bestimmte kulturspezifische Anblicke nicht dulden zu müssen. Wie wäre es, wenn derselbe Gerichtshof beschlösse, kopftuchtragenden Musliminnen sei der Anblick von Kirchtürmen nicht zuzumuten – oder christlichen Touristen in der Türkei, die in die EU drängt, der Anblick von Minaretten? Wäre die Ära der Religionskriege auch wirklich vorüber – was nicht gewiß ist –, das Zeitalter der kombattanten Empfindlichkeiten steht an seinem Beginn.
Was die symbolempfindlichen Richter angeht, agieren sie mehr als Medien denn als Autoren des Zeitgeists. Ihr mentaler Befund ist am ehesten zu deuten als ein von Sentimentalität unterwanderter Formalismus.
»Wenn sich Mangel an Bildung (apaideusía) zur Macht gesellt, entsteht Größenwahn.« (Aristoteles, Protreptikos )
27. Februar, Karlsruhe
Die Geisteswissenschaft sind durch und durch oligarchisch verfaßt. Immer zitieren die vielen (hoi polloi) die wenigen (hoi oligoi).
Soziobiologen haben das Konzept des fälschungssicheren Fitness-Signals formuliert. Ein solches liegt in Gestalt des Pfauenrads vor, das eine pure Luxusevolution verkörpert. Das Handicap wurde erfolgreich, weil es den Weibchen vor Augen führt, was das Männchen sich leisten kann. Die Pfauen paradieren vor den Damen wie Millionäre, die vor lauter Reichtum nicht fliegen können. Die Pfauenhennen erkennen ohne Abzählen, welcher von den männlichen Bewerbern die meisten Augen in seinem Rad hat, und lassen sich vom Sieger im Radschlagwettbewerb zu einem Spaziergang in die Büsche einladen.
In seinem anrührenden Nachruf auf den Kunstsammler Ernst Beyerle, der vorgestern starb, sagt Peter Iden, der große Kunstliebhaber habe sich durch den »absoluten Blick« ausgezeichnet – er kam, sah und kaufte.
Zweites Buch
Aus der besten Welt
Heft 106
28. Februar 2010 – 31. Mai 2010
28. Februar, Karlsruhe
Der angekündigte Orkan fegt über die Stadt. Vom Rhein her rollen Wolkenmassen wie schnelle pyroplastische Ströme in mittlerer Höhe über den Himmel. Im Garten vibrieren die Schneeglöckchen unter den Wirbeln.
Erregte Luft wie am Meer. Das Brausen zieht dich an, als solltest du an einem fatalen Aufbruch teilnehmen, es schneit Blätter vom letzten Jahr, altes Papier steigt auf, Staubwolken treiben über den Spielplatz.
Auch diesmal folgen die Meteorologen ihrer Gewohnheit, die Stürme mit Männer- und Frauennamen nach dem Alphabet zu belegen – dem heutigen haben sie den Namen Xynthia angeheftet, wie einer rasenden Schwester des ominösen Lothar.
Das erste Sturm-Individuum, das durch einen Beobachter aus dem Feld meteorologischer Phänomene ausgegrenzt wurde, auch wenn er noch keinen Namen trug, könnte der Sturm vom Ende Oktober 1859 über
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