Zeilen und Tage
der französischen Westküste nahe der Gironde-Mündung gewesen sein. Jules Michelet hat ihn in seinem Buch Das Meer von 1861 en détail beschrieben, eine Orgie, die fünf Tage und Nächte anhielt: »… das Entsetzliche blieb sich gleich. Kein Donner, keine Wolkenkämpfe, keine aufgerissene See … Ein düsteres aschgraues Leichentuch bedeckte uns, das noch etwas Licht durchließ und einem ein Meer aus Blei und Gips vor Augen führte, hassenswert und trostlos in seiner wütenden Monotonie.«
1. März, Karlsruhe
Friedrich Schlegel übt sich im Fragment 418 seiner Literarischen Notizbücher im qualitativen Addieren: Absoluter Roman = psychologischer Roman + philosophischer Roman + phantastischer Roman + sentimentaler Roman. Sieht man davon ab, daß die Idee des absoluten Romans keine Verteidiger mehr findet, würde man fragen, ob er nicht auch den historischen, den politischen und den erotischen Roman integrieren müßte. Er wäre ein überladener Hybrid, undurchführbar und unlesbar, ein Monstrum, das einer Künstlerwahngeschichte gliche: die Vita eines zerstückelten Gottes, von seinen Teilen selbst erzählt.
Leibniz schreibt in einem Brief vom 26. April 1713 an den Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, der als Romanautor mit Werken wie Die Römische Octavia hervortrat: »Und niemand ahmet unseren Herrn beßer nach als ein Erfinder von einem schöhnen Roman.« Daß Leibniz in dieser höflich-konstruktiven Bemerkung nicht alles verriet, was ihm zu diesem Thema durch den Kopf ging, läßt sich an seiner Äußerung ablesen, wonach der höchste Grad der Nachahmung Gottes sich in der vielseitigsten geistigen Tätigkeit zeige – was eher auf ihn selbst als den Romanschreiber deutete. Die entscheidende Information liegt in der Verschiebung der imitatio. Die moderne Nachahmung des »Herrn« bezieht sich nicht mehr auf den leidenden Sohn, sondern auf den schaffenden Vater.
»Que-ce qu’optimisme?« − disait Cacambo. »Hélas«, dit Candide, »c’est la rage de soutenir que tout est bien quand on est mal …«
Seit ich Candide zum ersten Mal las, es muß mit 16 oder 17 gewesen sein, bin ich den Eindruck nicht losgeworden, Voltaire mache es sich mit der Verspottung des Optimismus zu leicht. Von der Bauweise des Arguments zugunsten der besten aller möglichenWelt wußte ich schon genug, um zu sehen, daß Voltaire es nicht verstanden hatte, obschon man in diesem Alter ein solches Urteil niemals gewagt hätte. Andererseits, warum sollte ausgerechnet ein munterer Literat sich um ein kompliziertes Theorem in der Originalform bemühen, wenn er durch eine Karikatur für den eigenen Auftritt freie Hand bekam?
Die intellektuelle Unredlichkeit kommt historisch und psychologisch aus der Theologie. Im 18. Jahrhundert springt sie auf die weltliche Literatur über – das Phänomen Rousseau bezeichnet eine neuartige Mischung aus radikaler Ehrlichkeit und beispielloser Verlogenheit. Wenn man Voltaire für vergleichsweise ehrlich hält, so weil ihn Rousseau in puncto Unredlichkeit völlig in den Schatten gestellt hatte.
Das 19. Jahrhundert will die Redlichkeit zurückerobern, es verschreibt sich dem Realismus von unten – daher seine Neigung, »Illusionen« zu opfern. Untergründig bleibt auch diese Zeit von der Leibnizschen Ontologie geprägt, nur daß sie statt der besten die wirklichste aller möglichen Welten verteidigt. Als wirklich läßt man jetzt gelten, was mit den Affen, den Fabriken, den Genitalien und dem Machtstreben zu tun hat.
Nie hat mir die populäre Fabel eingeleuchtet, wonach das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 dem Optimismus der frühen Aufklärung einen Schlag versetzt haben soll, von dem diese sich nie mehr ganz erholte. Seit wann haben punktuelle Ereignisse Prinzipien oder Grundstimmungen direkt affiziert? In Wahrheit war etwas ganz anderes geschehen. Der naturgeschichtliche Zwischenfall hatte der klerikalen Häme und anderen Tendenzen zur Weltanschwärzung den Vorwand geliefert, nach einer Pause aus ihren Löchern zu kriechen. Jetzt konnte man wieder verkünden, was man seit jeher am liebsten sagte: Im Unglück zeigt die Welt ihr wahres Gesicht! Nur im Malheur ist unverstellte Wirklichkeit! Das Desaster der Portugiesen hatte einer Clique von übellaunigen Kommentatoren das erwartete Stichwort zu einer Orgieder Rechthaberei geliefert. Das Naturereignis kam gelegen, weil es der großen Koalition der Rachsüchtigen Anlaß bot, die große Aufhellung zu denunzieren, die mit der Aufklärung beginnen wollte.
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