Zeilen und Tage
Truppen im Land, werden die Wähler zu Hause unruhig, ziehen sie ab, überläßt man das Land den schlimmsten Tendenzen.
Unter den Gästen war Kurt Biedenkopf derjenige, der die positivsten Reaktionen auf meine Überlegungen zeigte, wonach Steuern in einer künftigen demokratischen Fiskalkultur als Spenden an den Staat und nicht mehr als irrationale Schulden der Bürger bei einer spätfeudalen Staatskasse aufgefaßt werden dürften.
Ob ich die Veranstaltung mit klaren oder gemischten Gefühlen verlasse, ist nicht leicht zu sagen.
Frank A. Meyer erzählt im Borchardt, er habe in den 40 Jahren seiner beruflichen Laufbahn auf keinen einzigen persönlichen Angriff in den Medien reagiert.
Neben ihm das Gesicht des Abends, die junge Meteorologin vom Potsdamer Institut, die mir ein Exemplar des von ihr mitedierten Buchs Global Sustainability. A Noble Cause widmete. Eine derjungen Frauen, zu deren Beschreibung man nur vom Aussterben bedrohte Wörter wie »Liebreiz« verwenden kann, auf die Gefahr hin, in die Klasse der unbrauchbaren Alten versetzt zu werden.
Besorgen: Karl Baier, Meditation und Moderne .
3. März, Berlin Paris
Der ernährungsbewußte Kannibale: »Man möchte doch wissen, wen man ißt.«
Leibniz hätte sich in seinem Argument zugunsten der wirklichen Welt als der besten aller möglichen bestärkt fühlen können – hätte er empirische Hilfsargumente gelten lassen –, wenn er vorhergesehen hätte, daß in den Vereinigten Staaten, zu seiner Zeit nur eine unverwirklichte Möglichkeit, der Begriff »Armut« eines Tages auf Haushalte angewendet würde, die pro Jahr mit 22000 Dollar oder weniger auskommen – in Deutschland liegt die kritische Schwelle bei 23000 Euro jährlich. Da 95% aller Menschen in 95% aller historischen Zeiten sich mit sehr viel weniger als dem Gegenwert dieser Summe begnügen mußten, würde der Philosoph den Schluß ziehen, die Welt müsse immer schon hinreichend gut gewesen sein, um Verbesserungen dieser Tendenz generieren zu können. Ihre aktuelle Optimalität wird durch ihre unausschöpfbare künftige Verbesserbarkeit bezeugt. Zum aktuellen Optimum gehört die Unzufriedenheit vieler Nutznießer heutiger Zustände, insofern ihr Nichteinverständnis mit dem Gegebenen als Triebkraft zu weiteren Verbesserungen wirksam werden könnte.
Bei der Suche nach den Ursachen für den großen Sprung nach vorn würde Leibniz Faktoren hervorheben, die wir seit langem für triviale Größen halten: die Geldwirtschaft, die Wissenschaften, die Technik. Über die höhere Technik würde Leibniz bemerken, sie sei das einzige von Grund auf Neue, das seit Plato in der Welt aufgetaucht sei. Während Plato die Materie verachtete, weil er in ihr das Medium des Vergessens und die Widersacherin der geistigen Formen sah, ist sie in der technischen Zivilisation ihrer Geistfähigkeit überführt geworden. Sie läßt sich überreden, beim Guten und Klugen mitzumachen – wenn vorerst auch nur im Arbeitskittel des Nützlichen. Seit die reformierte Materie mit der menschlichen Intelligenz kooperiert, wie soll man nicht sagen dürfen, die Welt sei die beste, vorausgesetzt, man verlangt von der Summe des Möglichen, im aktuell Wirklichen zusammenzufinden?
4. März, Paris
Friedrich Wilhelm Graf, dessen Urteilssicherheit immer beeindruckt, scheint mir auf dem falschen Weg zu sein, wenn er das theologische Bilderverbot auf moralische und pädagogische Ikonen ausdehnen möchte – als ob irgendwo geschrieben stünde: Du sollst dir kein Vorbild machen! Alles, was mit Moral und Erziehung zu tun hat, beruht auf dem Gebot, zu verkörpern, wie es sein soll. Schon in frühen Schriften zur Ausbildung der geistlichen Leiter von Gemeinden heißt es: »forma gregis esto!« Du sollst das Vorbild der Herde sein, wobei interessant ist, wie Form und Vorbildlichkeit ineinander übergehen. Mag sein, daß Graf sich über die mögliche Tyrannei des Vorbilds Sorgen macht. Gegen diese Sorge hilft nicht das Vorbilderverbot, sondern der Pluralismus der Ideale.
5. März, Paris
Abends mit Régis Debray im Café de Flore. Debray war erstaunlich unmürrisch, fast heiter, vielleicht weil sein neues Buch von dem Großleitartikler Jean Daniel freundlich besprochen wordenwar. Mehr noch, weil er beschlossen hatte, sein Schicksal, sich als einen Mann von gestern fühlen zu sollen, künftig ohne Groll auf sich zu nehmen. Offen spricht er aus, er sei, siebzigjährig, in dem, was kommt und was zu kommen nicht aufhört, nicht mehr zu Hause. Halb
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