Zeilen und Tage
Ruf nach Basel nicht annehmen. Rosenstock-Huessy könnte seine Metaphysik des Appells nicht schreiben.
27. April, Karlsruhe
Warum der Satz »Gott ist tot« eine gute Nachricht enthält: Weil er die Mitteilung impliziert, der transzendente Komplize des Verrats der Seele am Körper sei außer Gefecht gesetzt. Für die Liebhaber der Seele heißt das: Laßt euch etwas einfallen, wenn ihr sie anderswo unterbringen wollt.
Der Begriff »Weltoffenheit« ist nützlich, um ein Inneres zu denken, das keine separate Substanz voraussetzt.
30. April, Karlsruhe
»Wir haben keine neuere Literatur. Wir haben Goethe und Ansätze.« (Hugo von Hofmannsthal)
Aus der Sicht der Machthaber schwacher Staaten sind counterculture und crime identisch.
Ob es zutrifft, was irgendwo behauptet wurde: daß ein Hartz-IV-Empfänger materiell besser ausgestattet sei, als Karl der Große es jemals war?
»Protomagia«: Neugriechisch der 1. Mai
Der erste Hochsommerabend des Jahres. Bei offenen Fenstern Heudüfte und Ferienatmosphäre.
1. Mai, Karlsruhe
Was ist Resignation? Nicht mehr glauben können, daß sich die Vortragsreise lohnt. Nicht mehr lostraben, wenn dem Esel die Karotte gezeigt wird.
Beruf: Schrumpfungskommissionsberater.
Soziologen sehen Südafrika an der Spitze der rape cultures in der Welt. Die Vergewaltigungsquote soll bei 50% der weiblichen Population liegen. Man müßte wissen, welche Organisationen solche Zahlen ermitteln und mit welchen Methoden sie erhoben werden.
Lese für das nächste Quartett Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel von Moritz Rinke – das sich als ein gut gemachter, geistreich komischer Roman erweist, mit vielen nicht erfindbaren Einzelheiten aus der Geschichte der Worpsweder Künstlerkolonie, die für regionale Atmosphäre sorgen. Der Realitätseffekt guter Prosa hängt an unwahrscheinlichen Details – wie etwa den Namen von Pflanzen, die in der Nachbarschaft der fast alles tötenden Bleichmoose gedeihen.
3. Mai, Berlin Wittenberg
Mittags in Schloß Bellevue zum Festessen aus Anlaß von Huberts 70. Geburtstag.
Gewöhnliches Scheitern ist ein ausreichendes Äquivalent zur monotheistischen Demutsübung. Beides sorgt dafür, daß sich der Raum der Selbstüberschätzung nicht allzuweit nach oben öffnet.
Vom Fenster meines Zimmers im Hotel Alte Canzley zu Wittenberg schaue ich auf die Schloßkirche mit der Thesen-Tür. Wenn je das Wort »historisch« einen Sinn hatte, dann an dieser Stelle. Wittenberg bereitet sich schon jetzt auf die Feierlichkeiten vor, die hier in sieben Jahren zelebriert werden sollen. Vielleicht wird die Philosophie dann vorbereitet sein, Luther vor das Gericht der Geistesgeschichte zu laden. Er wäre zu befragen, ob seine Theologie die Hauptaufgabe seiner Zeit, die Befreiung vom Augustinismus, bewältigt hat. Da die Antwort mit Gewißheit nein lautet, ist jetzt schon absehbar, daß Luther aus seinem Jubiläum als Verlierer hervorgehen wird.
Dieser Aufenthalt ist zu kurz, als daß ich die themenparkartige Atmosphäre des Orts als belastend empfinden könnte. Hier hat Friedrich Schorlemmer seine Jahre als Stellvertreter Doktor Martins auf Erden zugebracht. Sein Nachfolger, Pastor Lehnert,merkt im Gespräch an, der Vorgänger habe ihm ein sehr alt-ostdeutsch geprägtes linksprotestantisches Milieu hinterlassen.
Am Abend nach der Lesung im Gemeindesaal fallen von seiner Seite privatissime einige ziemlich strenge Worte über Robert Spaemann, der als defensor fidei befehdet, was er als Humanist und Zeitgenosse zu respektieren vorgibt.
Mit dem Zug durch aufgeräumte Landschaften, getreidegrüne Flächen, Rapsfelder in eutonischem Gelb, hier und da eine rachitische Windmühle. Gestikulierende Windräderparks bestimmen das Bild, dazu neugeteerte Straßen, auf denen man kein Auto sieht. Dazwischen »Naturbelassenes«. Ziegelgemäuer, verfallen und in Stille gehüllt. Wie um den Satz zu bestätigen, die Armut sei die beste Konservatorin.
5. Mai, Karlsruhe
Generalstreik in Griechenland, ausgerufen von Gewerkschaften, die ihre Mitglieder agitieren, als gebe es ein Menschenrecht auf Kontoüberziehung. Düstere Ahnungen drängen sich auf. In wenigen Jahren, vielleicht schon in Monaten, wird das Land in einem Zustand sein, der die Helfer wünschen lassen wird, sie hätten sich dem Unausweichlichen nie in den Weg gestellt.
Der alte Helmut Kohl im Fernsehen. Eine Ruine seiner selbst – und wie jedes verfallene Gebäude das Mahnzeichen einer verlorenen Zeit. An seiner Erscheinung läßt sich
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