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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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ablesen, was das bizarre Theorem von der »Beschleunigung der Geschichte« bedeuten könnte: Das eben erst Geschehene wird viel schneller als früher in eine tiefere Form von Vergangensein hinabgedrängt.
    Einer der ersten, die den Akzelerationseffekt bemerkten, dürfte Thomas Mann gewesen sein, als er in der Einleitung zu seinem Roman Der Zauberberg von der Zäsur des Weltkriegs sprach, die für die »hochgradige Verflossenheit« der aus den Jahren davor zu berichtenden Dinge verantwortlich war.
    Was die Fließgeschwindigkeit der Gegenwart auf dem Weg in die Vergangenheit so sehr erhöhte, war die Dauerbeanspruchung des Bewußtseins durch die Kriegsnachrichten. Der Krieg hatte eine hektische Mobilmachung der Aufmerksamkeit bewirkt, die sich in den Friedenszeiten nach 1918 und nach 1945 nie wieder rückgängig machen ließ. In der mobilisierten Mediasphäre, in der wir seither leben, fällt das erst gestern, vorgestern Erlebte in einen so tiefen Brunnen der Vergangenheit, daß kein Beschwörer des Imperfekts es daraus mehr hervorholen kann – es sei denn im Modus einer musealisierenden Reminiszenz. Ein paar Minuten »Wochenschau« genügten, um zu demonstrieren, wie weit wir uns schon wieder von der gestrigen Lage entfernt haben.
6. Mai, Karlsruhe
    »Halbgötter machen keine Spesen.« Mit diesem Satz erläutert Raulff die Sprödigkeit Stefan Georges gegen Angebote der NS-Gewaltigen. (In: Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister , S. 54)
    Das Schicksal, der in Notwendigkeit eingeschweißte Zufall.
7. Mai, Karlsruhe
    Jacques Le Goff: »Les premiers faux-monnayeurs, ce sont les rois.« Es waren die Könige, die über Jahrhunderte die Geldentwertung durch Metallverschlechterung praktizierten. Bis ins 16. Jahrhundert dominiert der Ausdruck »Münze« (monnaie), wenn man von Geld spricht, dann kommt die Metallterminologie auf. Bis heute redet man von argent, obwohl seit 200 Jahren Papier auf der Geldszene König ist.
    In den Metalljahren zirkulieren Goldmünzen mit Königsportraits bei den hohen Herren, Bleimünzen, die die Hände schwärzen, unterm einfachen Volk.
8. Mai, München
    Hauptwerke werden heute zu dem Zweck geschrieben, der Mitwelt etwas zum Ignorieren zu geben.
    Die Frage, inwiefern Stefan George ein »Vorläufer Hitlers« gewesen sei, ist falsch gestellt. Sie akzeptiert die irreführende Hypothese, es habe so etwas wie »geistige Voraussetzungen« der NS-Bewegung gegeben – eine unter deutschen Autoren beliebte Unterstellung, zu der sich viele etwas einfallen ließen. Und wenn die Voraussetzungen im Entscheidenden gerade keine »geistigen« gewesen wären?
    Was Warburg »Nachleben« genannt hatte, mutiert jetzt zu den afterlife studies. Wo Seelenwanderung war, soll Motivgeschichte werden. Der vorsichtige Ideenhistoriker weiß den animistischen Rest im Konzept des »Motivs« zu schätzen.
    »Kulturgeschichte«, das sagt sich so leicht. In Wahrheit müßte man Sozialklimageschichte schreiben, basierend auf der detailnahen Beobachtung von Strömungen und Sprüngen der milieuspezifischen Stimmungen. Die Geisteswissenschaften hätten von der Meteorologie zu lernen. Die geht von der nur scheinbar trivialen Tatsache aus, daß es nie in allen Landesteilen gleichmäßig regnet. Großwetterlagen sind Volatilitäten, die in mittleren Frequenzen schwanken, manchmal sehr plötzlich.
    Raulff hat mit seiner Polybiographie des späteren George-Kreises gezeigt, wie kollektive Stimmungslagen in einem eng definierten Milieu binnen eines halben Jahrhunderts drifteten. Das gibt eine Vorstellung davon, was eine feinkörnige Psychohistorie für größere Kollektive zu leisten hätte.
    Was mir an Raulffs Buch am sympathischsten auffiel: es macht nie den Versuch, George dem Leser »näher zu bringen«. Diskretrückt der Bericht den spröden Meister in die Ferne, als wäre dies die einzige für ihn passende Lage.
11. Mai, Erfurt
    Der Überlebensvorteil Sprache wird heute von dem Überlebensvorteil Mathematik überflügelt. Die bloßen Sprachmenschen verstehen die Welt nicht mehr.
    In manchen Lebensgeschichten muß eine Saison in der Haßwelt vorkommen.
13. Mai, Karlsruhe
    Aus der Universalgeschichte der Frivolisierung:
    a) Wie Caligula sein Pferd vergötterte, indem er ihm vergoldetes Getreide zu fressen gab und ihm Wasser aus Goldkelchen reichen ließ
    b) wie Fortunatus die Zauberbörse gewann, und wie Dr. Faustus durch die Luft zum Harem des Sultans flog
    c) wie unter Louis-Philippe die erste Konsumgesellschaft blühte, und wie sich

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