Zeilen und Tage
ein Stück, das auf vertonten Dionysos-Dithyramben beruht, nur mißlingen kann. Was sich in diesen zwei Stunden präsentierte, ist pure Antigravitation, eine Serie von wunderträchtigen Siegen über die Unmöglichkeit. Hier wird das Hören zur Aufhebung der Schwerkraft.
Nachts auf dem Balkon in Aigen eine Stunde in Meditation ohne Lidschlag. In den Lichtkegeln der Laternen leuchten die dicht fallenden Regentropfen auf, gegen Mitternacht läßt das Rauschen nach. Nur langsam gewöhnt sich das Ohr daran, daß der Ausnahmezustand aufgehoben ist.
Wer war nur die blonde Dame, die beim Empfang hinter der Bühne umherging und wie eine Reporterin ohne Notizblock die Worte verkündete: »Wolfgang Rihm weint«, als ob dies ab sofort ein Satz der Musikgeschichte wäre?
9. August, Salzburg
Am Fluß entlang bis Hallein, wo ein Spruchband über die Straße gespannt ist: »Jagden und Formen«.
Nachmittags mit dem Fahrrad von Aigen auf den Gaisberggipfel, 1270 Meter über dem Meer, bei beachtlichen Steigungen auf den letzten Kilometern.
Auf der Terrasse des Hotels Stein über der Salzach kommt es gegen Abend zu der lange geplanten Begegnung mit Jörg Widmann. Spontan tauchen die Umrisse zu dem Opernlibretto auf – organisiert um eine Dramenfigur, die »die Seele« heißen wird, eine Gestalt, die inmitten der macht- und angstgeborenen Turbulenzen von Babylon nach dem Ort der Liebe fragen soll. Sie nimmt die Definition des Eros als einer Himmelsmacht wörtlich und hält bis zuletzt an der überwirklichen Verankerung des Liebeslebens fest. Ihr soll dramaturgisch und musikalisch das erste Wort in der Oper gehören – es kann kein anderes sein als eine Klagestrophe, in der die Liebe als die verlorene besungen wird. Widmann meint, die Figur sei wie geschaffen für Christine Schäfer.
Sex und Oper haben gemeinsam, daß das eine wie das andere nur so »gut« sein kann, wie es übertrieben ist.
Das Unglaubliche ist der einzige Maßstab, an den zu glauben immer richtig ist.
Finde in einem Aufsatz von Immanuel Kant über die Rassen des Menschengeschlechts, 1775, die anmutig bizarre Bemerkung, die Menschheit laufe in vier verschiedenen Natur-Livreen umher – weiß, schwarz, gelb und rot. Wie denn auch nicht, da alle Menschen Kammerdiener der Herrin Klima sind, die ihr Personal unter ungleichen Himmeln in verschiedene Häute steckt?
Gehen wir in die Oper? Gehen wir Zeit verlieren? Im Grunde will jeder Gesang auf die Herrlichkeit des Stillstands hinaus.
10. August, Salzburg
Kant meint, die menschenleeren Monstrositäten von Wüste, Meer und Himmel vermittelten uns Vorahnungen der Freiheit. In Wahrheit geben diese Zonen eine Nachricht davon, daß Leben, wie wir es verstehen, dort nicht überdauern könnte. Dann wäre Freiheit nur der Name für die Versuchung, ins Unmögliche zu desertieren. Was man früher das Ewige genannt hat, war die Zusammenfassung aller Wüsten, Meere, Himmel und Höllen in einer zentralen Lebensfeindlichkeit namens Gott. Der gaben wir in Furcht und Zittern den Namen »Leben des Lebens«.
Von Hermann Scheer kommt die Zusage für einen Abend in Karlsruhe im Rahmen unserer Bürger-Akademie.
Wo das 19. Jahrhundert sich am grandiosesten präsentiert: wenn Michelet das Meer panvitalistisch als Gebärmutter der Formen feiert. Er redet von der Qualle, als habe er bei ihr das Geheimnis des ungepanzerten Daseins gefunden, ausgenommen die Feuerquallen, die bei Berührung brennende Stoffe absondern, somit die chemische Waffe anstelle der Schutzhülle aufbietend. Michelet reist durch das Meer wie Hegel durch das Reich der Ideen – das Universum der Heringe, der Polypen, der Quallen, der Kraken. Er weiß von zahllosen Imperien aus biomorphem Geist.
11. August, Wien
Die neuen Überempfindlichen. Nachdem sie ihre Hoffnungen an Illusionsgebilde geheftet haben, reklamieren sie das Recht, keinen illusionsauflösenden Botschaften begegnen zu müssen.Treffen sie auf solche, sagen sie, sie seien verletzt worden. Nenne die verletzten Gefühle religiös, dann kannst du der ganzen Mitwelt den Vorwurf machen, dich auf Schritt und Tritt zu vergewaltigen.
Sie sagen »Kultur«, sie sagen »Religion«, und meinen Lebensversicherungen für Illusionen.
An Michelets Gynäkologie des Meeres ist ablesbar, wie sehr man den Begriff des Lebens vorzeiten als pure Protuberanz, als entfesselte Gebärfähigkeit und formenfrohe Selbstverschwendung konzipierte. Mit Darwin wurde das Leben durch das Nadelöhr der Konkurrenz getrieben. Nach der
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