Zeilen und Tage
Serie von Fußnoten zu Plato, so wäre mit noch größerem Recht zu sagen, die europäische Theologie sei eine Folge von Umschreibungen des metaphysischen Masochismus, der aus der augustinischen Werkstatt auf die Nachwelt kam.
Zu Beginn der Neuzeit haben sich mehrere Schicksalsbegriffe herauskristallisiert:
a) Das fatum stoicum: der strikte Kausaldeterminismus
b) Das fatum chaldaicum vel astrologicum vel mathematicum, was noch von ferne daran erinnert, daß in der Spätantike die Sterndeuter mathematici hießen
c) Das fatum physicum: die aristotelisch aufgefaßte Natur
d) Das fatum christianum alias göttliche Vorherbestimmung.
Darüber hinaus kennen Autoren wie Leibniz und Schopenhauer ein destin à la Turque bzw. den »Türkenfatalismus«.
Mit der Aufklärung wird der Schicksalsbegriff resolut außer Dienst gestellt, da nun dem menschlichen Handeln die Heldenrolle zusteht. Die Romantiker rufen es aus dem Exil zurück, um die aus dem Ruder gelaufenen Projekte menschlicher Handlungsherrlichkeit zu rezensieren. Die große Geschichte erscheint den Zeugen der heroischen Aufbrüche zwischen 1789 und 1815 als das Reich der Dinge, bei denen es anders kommt als gedacht. Nach-revolutionär laufen Geschichte und Schicksal wieder auf eins hinaus.
In der Nach-Aufklärung findet eine behutsame Re-Evaluierung des Konzepts statt – hier setzt unsere Arbeit an. Das Schicksalwandert in die Ästhetik ein und nistet in den Zwischenfällen des Alltags. Schließlich nähert sich der Begriff dem des Charakters, ja, dem des »individuellen Gesetzes«. Heidegger nimmt den Ausdruck auf, wobei der Akzent auf die Selbstwahl des entschlossenen Daseins angesichts des gewissen Todes fällt. Einzelne haben »Schicksal«, Völker »Geschichte«. Die Grundfigur der Seins-Hinnahme heißt »sich schicken in …«.
Kein Schicksal ohne den Beobachter, der die Ereignisse mit dem Prädikat »fatal« versieht. Nicht bloß Schiffbrüche haben ihre Zuschauer. Die allgemeine Formel müßte heißen: »Verhängnis mit Zuschauer«. Wahre Philosophie verlangt den Titel »Zeit und Beobachtung«. Wer zuletzt beobachtet, beobachtet am besten.
22. Juli, St. Blasien
Fritz Teufel ist gestorben. Begraben auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, in der Nähe von Herbert Marcuses Asche – die durch Zweitbegräbnis dorthin gelangt war.
23. Juli, Karlsruhe
Ortega y Gasset merkt an, das Interesse jedes Einzelnen an sich selbst bedürfe keiner weiteren Erklärung, geschweige denn einer Rechtfertigung. Das Gegenteil davon scheint mir wahr zu sein. Die meisten Menschen würden unter der Zumutung, sich interessant zu finden, zusammenbrechen. Der größte Teil der sogenannten Kultur, die Religionen inbegriffen, widmet sich seit jeher der Aufgabe, die zahllosen Einzelnen vor dem Interesse an sich selbst zu schützen.
24. Juli, St. Blasien
In seinen Vorlesungen En torno a Galileo notiert Ortega 1933 im Heideggerschen Ton: »Leben ist bereits Zwang zur Selbstdeutung« ( Werke III , S. 401), wobei in dem Konzept »Selbstdeutung« die Figur der Selbstwahl mitklingt. Aus der Synthese von Zwang und Wahl macht ein Jahrzehnt später der französische Existentialismus seine Erkennungsmelodie. Die Freiheit fällt uns als eine ungewählte Wahl zu: nous sommes condamnés à la liberté.
Solche Sätze liest man heute mit der Empfindung, man hebe eine Scherbe mit einer antiken Inschrift vom Boden auf.
26.-28. Juli, St. Blasien
Immer noch im Jahr 1933: Ortega schreibt, wir müssen uns anstrengen, »um uns vor den zwei neuen Feinden des Menschen, dem Grammaphon und dem Radio, zu schützen«.
In der zünftigen Geschichtswissenschaft werden Ortegas luftige Spekulationen über die Rolle der Generationen beim Wandel der Epochen-Klimata nie eine ernste Rolle spielen, da sie zu sehr nach Wochenendbeilage klingen. Seine Ideen über die 15-Jahres-Zeitspannen, in denen die Lebensgefühle in den Kulturnationen umbrechen, sind trotzdem stimulierend. Nach ihm wäre die Antithetik zwischen den Jung-Erwachsenen von 30 bis 45 und den Alt-Erwachsenen von 45 bis 60 der verborgene Motor des psychosozialen Wandels.
Stierkampf als Metapher: Wer wollte ihn nicht, »den Abgang durch das große Tor«: salir por la puerta grande?
In der besten Welt: Zwischen 2003 und 2009 haben sich 1,4 Millionen Deutsche künstliche Hüftgelenke einsetzen lassen, dazu kommen für denselben Zeitraum 1 Million künstliche Kniegelenke. Dritte Zähne und zweite Gelenke sind zu Chiffren der Seniorendemokratie geworden. Im
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