Zeilen und Tage

anti-hegelianische Bosheit zustande kam, spricht Schopenhauer vom »Skelett« einer Argumentation: Da habe man schon ihre »Osteologie«.
    Nigel Thrift: Über Propensitäten.
    Karl Löwith über post-metaphysisches Denken, lapidar: Stets geht es darum, den »Abstieg aus der Verstiegenheit« falscher Abstraktionen zu vollziehen. Daher gehören Marx und Heidegger zum selben anti-olympischen, anti-alpinen, anti-himalayischen Unternehmen. Die letzten Großen sind die Titanen des Sich-Kleinmachens.
19. August, Wien
    Von der Domgasse her fällt Sonnenlicht in den Salon. Du atmest still wie nach einer Partitur aus der Zeit von Bachs Söhnen, aufOriginalinstrumenten gespielt, schon mit leicht romantischer Phrasierung.
    Der Metaphorologe notiert: »Ölteppiche« breiten sich an der Wasseroberfläche aus, »Ölfahnen« wehen »untermeerisch« – so etwa die kürzlich entdeckte Ölfahne im Golf von Mexico, von der es heißt, sie sei in einer Tiefe von 900 Metern 35 Kilometer lang und 2 Kilometer breit.
20. August, Wien
    Nun haben wir ihn erst seit wenigen Tagen, den neuen Plastikbundespräsidenten, den die hohe Versammlung nach bestem Unwissen und in wahrer Freiheit von jeder Regung des Gewissens ins Amt gehoben hat, da tritt er an die Öffentlichkeit mit der mahnend trotzigen These, es sei nicht hinzunehmen, daß Politiker bei der Öffentlichkeit in so niederem Ansehen stünden. Wenn es eines Tages dazu kommt, daß ich meine Ideen zu einer Theorie des blinden Flecks zusammenfasse, wird dieses Beispiel nicht fehlen.
    Das Verblüffende an Phänomenen des bezeichneten Typs liegt darin, daß sie durch Aufklärung nicht verschwinden. Wulff kennt das Jesuswort über den Balken und den Splitter aus Matthäus 7 so gut wie jeder andere, doch das Bekanntsein mit dem Mechanismus ändert an seinem gesetzmäßigen Funktionieren nichts. Die Frage ist nur, mußte der Mann sich wirklich ins Schloß Bellevue schicken lassen, damit er von dort aus seinen persönlichen Beitrag zur Geschichte des Augen-Balken-Effekts liefert?
    Die bittersten Satiren sind die wörtlichen Zitate. Latour erwähnt einen Satz von Emile Durkheim aus dem Jahr 1914: »Sans rationalisme il n’y a pas de République française.«
    Die International Maritime Organisation (IMO), 1948 in London gegründet, mit 169 Mitgliedsstaaten eine der komplettesten Organisationen der Erde, besitzt seit 1973 einen »Ausschuß für den Schutz der Meeresumwelt«. In der Zeit seines Bestehens hat sich die Verschmutzung der Meere um den Faktor 100 vermehrt, als ob bewiesen werden sollte: Ausschüsse sind dazu da, damit sich unter ihrem wachsamen Auge die immer präziser erfaßten Probleme prächtig entwickeln. Man könnte das die operative Schwäche der institutionalisierten Beobachtung nennen: Sie ist in der Regel gerade gut genug ausgerüstet, um die Daten zu sammeln, die Anlaß zu Interventionen gäben, auf der praktischen Ebene steht sie jedoch der Exekutive zu fern, um ausführen zu lassen, was von der Beobachtung nahegelegt wird. Die Ohnmacht wandert von den Einzelnen zu den kollektiven Organen, ja bis hinauf zu den Staaten, die vormals als politische Äquivalente des heroischen Etwas-tun-Könnens ins Leben traten und heute als die exemplarischen Agenturen des Nichts-tun-Könnens erscheinen.
    Wohin also geht nun die Reise? Man muß befürchten, sie führt geradewegs zur multi-impotenten »Gesellschaft«. Immer mehr Agenten finden sich immer häufiger in Situationen, in denen sie nicht die Mittel besitzen, um zu tun, was sie dem Stand ihrer Kenntnisse zufolge auf der Stelle tun müßten.
21. August, Wien
    In den Medien eine Nachricht, die aufschreckt, unterbricht, betrübt, bestürzt. Christoph Schlingensief ist heute gestorben, das große schreckliche Kind, das seine Trauergemeinde schon zu Lebzeiten um sein Krankenbett versammelt hatte. Bei ihm hatten mind und matter verschiedene Pläne, und während der Geist noch rastlos Entwürfe machte, ging der Körper einen anderen Weg.
22. August, Wien
    Denke anhand von François Julliens Betrachtungen zur Logik der Wirksamkeit über asiatische Ethik nach. Der Mensch erscheint im östlichen Licht wie in Planktonpartikel im Meer des Allgemeinen. Das verhält sich nie ganz falsch, wenn es der herrschenden Strömung folgt.
    Lies diese Ausführungen, und du verstehst die Franzosen der Vichy-Zeit viel besser, die sich wie Hitlers und Pétains Chinesen verhielten.
    Im Drehbuch für diese Population war aber nicht vorgesehen, daß im Lager der