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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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ob der Sündenfall verhindert worden wäre, wenn eine Überwachungskamera beim Baum der Erkenntnis den sich anbahnendenVorfall rechtzeitig bemerkt und der Paradiesverwaltung gemeldet hätte. Nein, sagt der Professor, denn Gott ist Kantianer und schaut allein auf die Gesinnung der handelnden Personen. Wenn also Eva das Gesetz brechen wollte, so war ihr böses Wollen bereits mit dem Sündenfall identisch. Die Ausführung der Tat selbst steht bei der Evaluierung hinter dem Vorsatz zurück. Die Vertreibung wäre in jedem Fall rechtens gewesen, wären auch alle Äpfel der Erkenntnis am sensitiven Baum hängengeblieben.
    Wittgenstein nennt »einseitige Diät« eine Hauptursache »philosophischer Krankheiten«. »Man nährt sein Denken nur mit einer Art von Beispielen.« Der Denker sagt nicht, wie eine ausgewogene Beispiele-Diät aussähe. Hätte er das Thema näher untersucht, wer weiß, ob er nicht zu dem Schluß gekommen wäre, Beispiele seien Nahrungsergänzungsmittel, keine Nährstoffe.
6. August, Wien
    Francis Bacon, The Advancement of Learning , 1605: »The duty and office of Rhetorics is to apply Reason to Imagination for the better moving of the will.«
    Australische Meeresbiologen haben laut Nature den Nachweis erbracht: die Geschichte des Menschen führt letztlich zum Meeresboden: Homo sapiens soll 70% seines Erbguts mit dem von Meeresschwämmen gemeinsam haben.
    Nemo ita pauper vivit quam natus est. Ärmer als bei der Geburt kann ein Mensch nicht sein.
    Willst du wissen, in welchem Land du lebst, lies ruhig die Kommentarseiten im Spiegel zu den aktuellen Berichten über »The Giving Pledge«, jener Initiative amerikanischer Superreicher um Bill Gates und Warren Buffet, die ihresgleichen zu einer beispiellosen Aktion freiwilliger Vermögensumverteilung aufgerufen haben. Unter den deutschen Stimmen hierzu ist kaum eine, aus der nicht Haß, Häme, Hochmut und die ganze übrige Sippschaft der Herabsetzungsaffekte zu hören ist.
    Vectigalia nervi rei publicae. Schon Cicero weiß, daß Staat und Steuern zusammenhängen wie Körper und Nervensystem. Nun müßte nur noch herausgefunden werden, ob mehr oder weniger Nerven wünschbar wären.
    Die Römer wußten zudem für eine politisch so schicksalhafte Größe wie die Steuern keinen besseren Ausdruck hervorzubringen als die trostlose Bürokratenvokabel »vectigalia«, die sinngemäß wohl so etwas wie »Herbeiziehungen« (id quod vehitur) bedeutet. Das Wort beschwört ein Bild herauf: Hagere Finanzbeamte blicken aus dem Fenster der Behörde, während mit Geldmünzen beladene Ochsenkarren im Hof vorfahren.
    Moskau im Rauch. In einem halben Jahrhundert werden die Alten sich erinnern, wie es während dieser exzessiven Hochsommertage in der Metropole zuging: Weißt du noch, die ganze Stadt in Dunst gehüllt wie eine Wohnung, nachdem der Christbaum Feuer fing? Die Augen gerötet, die Lungen brennend, das ganze Volk von Abkühlung phantasierend, zum Himmel aufblickend und auf den Regen wartend wie auf die Revolution.
8. August, Salzburg
    Für einen Tagebuchschreiber hätte es heute einiges zu tun gegeben. Er hätte zu erzählen gehabt von der mystisch heiteren vormittäglichen Exkursion in die Berge bei Gmunden, mit dem umhüllenden Licht in den Nadelwäldern und der Heubrise, die über die Hänge wehte wie ein meteorologischer Kommentar zur Lehre von der ästhetischen Rechtfertigung des Daseins.
    Dann müßte er mit der gebührlichen Ausführlichkeit über dieAufführung von Wolfgangs neuer Oper Dionysos im kleinen Festspielhaus berichten, einer Offenbarung musikalischer Reichtümer ohnegleichen, bei der man – falls dies möglich wäre – eine noch weiter gehende Vollendung der Rihmschen Partiturkunst konstatieren durfte. Ihr wollt Explosionen? scheint diese Musik zu fragen, Niagarafälle, Sonnenfinsternisse? bitte schön, auch das können wir. Rihms reifster Stil, falls dies das richtige Wort wäre, hat den Katarakt mit dem Fluß versöhnt und die ausbruchsartigen Heftigkeiten, die frühere Werke auszeichneten, mit einer musikalisch allwissenden Weisheit in einem unfaßbar nuancenreichen Strom verbunden.
    Seit Heideggers Nietzsche-Vorlesungen der vierziger Jahre ist Rihms Dionysos das größte Ereignis in der Geschichte der Nietzsche-Rezeptionen, um von dem Stellenwert dieses Stücks im neueren Musikdrama nicht zu reden. Man spürt bei jedem Takt, in welchem Maß die große Kunst überwundene Unwahrscheinlichkeit bedeutet. Zunächst hätte alles dafür gesprochen, daß

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