Zeilen und Tage
überraschten Sieger von 1944 ein gewisser Sartre auftauchte, der den Franzosen ihr Chinesentum ein für allemal austreiben wollte. Er erhob allen Ernstes die Forderung, der Mensch müsse ganz aus Freiheit, Tat, Wille, Gesinnung und Entscheidung bestehen – alles Dinge, von denen man unter den Pagoden des süßen Sichgehenlassens noch nie etwas gehört hatte.
Unsichtbare Tränen für Christoph. Was an ihm das ganz Besondere war, machte zugleich seine Schwäche aus. Er besaß die seltene Gabe, sich selbst ohne Reserve auszusetzen und dadurch Situationen zu schaffen, die ohne seine Rücksichtslosigkeit gegen sich nie hätten entstehen können. Dies haben viele als künstlerische Freiheit gedeutet, indessen es vielmehr eine Form der existentiellen Verausgabung war.
Er war der einzige Situationist, der je von deutschem Boden aus operierte. Sein Talent, das ihm niemand absprechen konnte, soviel man ihm ansonsten absprach, bestand darin, unbeherrschbare Vorgänge auszulösen, die man mit dem ästhetisch dubiosen Begriff »Aktionen« belegte. »Aktion« nennt man die Handlung, mit der sich die Kunstwelt auf die Nichtkunstwelt hin öffnet. Vielleicht auch die Handlung, kraft welcher die Kunst auf sich selbst verzichtet. In dieser Bewegung auf der Grenze ins Äußere war Schlingensief zu Hause.
23. August, Wien
In diesem Sommer voller Verluste kommt so viel zusammen. Man lebt in Furcht und Zittern. R. berichtet sehr betrübt, Tante Paula sei gestorben, kaum einen Monat nach ihrem 87. Geburtstag. Als Schwester der Mutter, beweglicher, offener, herzlicher, eine Begleiterin ihres ganzen Lebens.
Einer der Tage, an denen der Krieg zwischen dem Nichts und dem Etwas zugunsten des Nichts entschieden scheint. Die Truppen des Etwas ziehen sich zitternd zurück, unsicher, ob ihnen eine neue Aufstellung gelingen wird, während die Reiterei des Nichts die Fliehenden vom Rücken her angreift.
Was heißt das: In Erinnerungen leben? Es meint, Landschaften errichtet haben, die nur von innen zu betreten sind. Wenn ich Toskana sage, denke ich an eine Gegend, in die kein Zug fährt. Solche Orte sind in mir verstreut. Ein inneres New York, ein inneres Indien, ein inneres Japan, ein inneres Spanien. Diese Gegenden haben mit Dagewesensein wenig zu tun, es sind eher die Länder der Autoren, mit denen ich von jungen Jahren an im Gespräch war. Ich lese ein paar Seiten aus Petrarca und Alberti und sehe die Sonne hinter den Zypressen bei Florenz aufgehen.
24. August, Wien
Nun bejubeln alle den toten Schlingensief und nennen ihn andächtig einen Provokateur, als ob das eine Berufsbezeichnung wäre wie Mannequin oder Pilot. Am offenen Grab sollen Kunst und Provokation noch ein letztes Mal identisch sein.
Der einzige, der wirklich das Recht hätte, zu Christophs Tod etwas zu sagen, ist ohne Zweifel Bazon Brock. Zwischen den beiden gab es eine Art Vater-Sohn-Verhältnis, als ob auch Vaterlosigkeit Erbgänge inspirieren konnte. Nur ein medialer Mensch wie Bazon weiß, was er sagt, wenn er Christoph einen medialen Menschen nennt. Zu Recht protestiert er gegen die idiotische Mißdeutung Schlingensiefs als Provokateurs. Bazon besteht darauf, er sei ein Entdecker gewesen, der sich als Animator und Regisseur von »Themen« auszeichnete.
Besorge mir die Argonautika des Apollonios von Rhodos, um für den Hamburger Vortrag auf dem Weltkongreß zum Schutz der Ozeane im September die Episode nachzulesen, worin die Mannschaft des unvergleichlichen Fahrzeugs, allesamt Fürstensöhne, ihre Mutter, das Schiff, auf die Schulter nehmen und durch die syrtische Wüste tragen – ein Bild, das einen ersten Vorgriff auf die Umkehrung der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt enthält.
Aus den Nachrichten: Seit 9 Tagen staut sich der Lastwagenverkehr in Richtung Peking. Die Behörden gehen davon aus, der Stau werde sich nicht vor Anfang September auflösen. Die chinesischen Fernfahrer scheinen sich in ihr Schicksal ergeben zu haben. Alan Watts müßte ein neues Nachwort zu seinem Bestseller verfassen: »Der Lauf des Wassers bei zugedrehtem Hahn«.
In der NZZ liest man, in diesem Jahr sei der Earth Overshoot Day auf den 21. August gefallen. Das ist das Datum, von dem an die menschlichen Zivilisationen mehr verbrauchen, als diese Erde unter Sustainability-Voraussetzungen jährlich herzugeben imstande wäre. Naturgemäß wandert der Stichtag seit längerem immer weiter nach vorn. Je früher er anzusetzen ist, desto schneller nähern sich die Verhältnisse der
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