Zeilen und Tage
eo ipso in einem Europa ohne Europäer, ausgenommen die Eurologen in Brüssel und Straßburg, für die Europa der Arbeitgeber ist. Demnach bliebe die Alte Welt in Negris Augen ein passives Geschöpf der USA auf dem geopolitischen Schachbrett. Zieht man den schadenfrohen Ton der Diagnose ab, enthält sie einiges, was dazu beiträgt, die Schwäche des europäischen Riesen besser zu begreifen.
12. September, Ile Rousse
Von einer Exkursion in die Berge erkältet in die Villa zurückgekehrt. Wieder einmal vergessen, daß man bei schnellen Abfahrten in der Abenddämmerung die Windjacke braucht.
Als Krankenlektüre fällt mir Tolstojs Kreutzersonate in die Hände, ein virtuoses, suggestives, bösartiges Werkchen, das ahnen läßt, bis wohin die Verlogenheit geht, wenn ein älterer Herr beschließt, vom Schürzenjägerleben auf Heiligkeit umzustellen. An dem Ehe-Hölle-Stück made in Russia bleibt allein die Position des Erzählers von Interesse, sofern sie verrät: Der »Perspektivismus« ist im wesentlichen eine erzähltechnische Tatsache.
Nietzsche zieht damit die philosophische Konsequenz aus der Bauweise des Ich-Romans. Er argumentiert, als habe er den Menschen seiner Zeit den Rat erteilen wollen, sich nicht länger durch die Panoramen des auktorialen Erzähltheaters beirren zu lassen – statt dessen ganz in die Erste Person einzutauchen. Hiermit wird er zum Anreger Heideggers, der in seinen genialen Jahren gegen die Unwilligkeit der Menschen, in der ersten Person zu leben, Sturm geläutet hatte: »Der Mensch ist das Weg« – und zwar von sich selbst!
An der psychologischen Konstruktion der Kreutzersonate ist zudem die Option des Erzählers für die Einsicht ins durchsichtige Innere des Protagonisten von Belang: Tolstoj gehört zu den transparentistischen Psychologen des 19. Jahrhunderts, die ohne den Begriff des Unbewußten auskommen. Er geht davon aus, daß der Delinquent, mag er auch durch Eifersucht in delirante Unterstellungen eingesponnen sein, im Augenblick der Tat ganz bei sich ist – wobei der Ausdruck »Bei-Sich« die Zustimmung zu dem Bösen impliziert, das sich in kriminellem Handeln verwirklicht. Wenn der Mörder im Augenblick der Tat bei sich ist, so ist er bei dem Teufel, der er in situ werden will. Nur scheinbar gibt es in diesem Fall eine Art von »Besessenheit«, einen Raptus, eine Überwältigung. In Wirklichkeit kommt es dem Täter darauf an, den Zustand, aus dem die Tat fließt, als eine Episode höchster Selbstverwirklichung zu erleben. Was Raserei zu sein scheint, ist der klare Wille zum Nicht-mehr-anders-Können. Damit wird der Übertritt aus der Gewissenshemmung in die Sphäre der willkürlichen Taten freigegeben. Tolstojs Held hätte im entscheidenden Augenblick sagen können: Ich töte, also bin ich.
Noch Sartre hat seine salauds über einer ähnlichen psychologischen Matrix konstruiert: Die »Dreckskerle« – früher übersetzte man salauds mit »Schweinehunde« – sind Deserteure aus der Freiheit, die sich in reißende Bäche verwandeln wollen, um so den Zugang zum unverantwortlichen Agieren zu erreichen. Im übrigen: Auch beim Sex, wenn er nicht mental verstellt ist, findet sich der Erlebende genau in dieser Position – voller Zustimmungzu dem, von dem er möchte, daß es ihn überkommt. Ganz Ich und ganz Es-passiert.
Régis Debray läßt mir über Maren Sells Verlag sein kürzlich verfaßtes Libretto zu einem Musical über Walter Benjamins letzte Tage zusenden. Amüsiertes Unbehagen, nicht Debrays wegen, sondern wegen des Sujets, das nun vollends mythisch zu werden droht.
13. September, Karlsruhe
Seltsam, wie konsequent Tolstoj das Rauchen als Symptom der existentiellen Lüge deutet.
14. September, Karlsruhe Münster
Ironische Gerontologie: Bist du alt genug für internationale Reputation, bist du zu alt für die Funktionen, zu denen die Reputation Zugang gäbe. Abzulesen an den Angeboten, die mich in jüngerer Zeit aus China und den Emiraten erreichen.
In der Post ein Exemplar von Henning Ritters Notizheften – vierhundert Seiten Geistergespräche der seltensten Art, eine Serie von Maximen und Reflexionen ohne jede Datierung, ohne Kapitel, ohne Register – das pure Nimm und Lies.
Durch Jacques Attalis kleine Schrift Tous ruinés dans dix ans? Dette publique, la dernière chance , 2010, erlangt man Kenntnis eines Vorgangs voll anzüglicher Analogien: Am 16. Dezember 1893 erklärt Griechenland durch den Mund seines Premierministers den Staatsbankrott – nachdem es 50
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