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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Intellektuellen«. Obwohl die Entthronten zwischen 1945 und 1980, Sartres Todesjahr!, ein gespenstisches Comeback, ja eine fürstliche Restauration erlebt hatten, ist Ortegas Beobachtung heute so wahr wie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs.Wir sind inzwischen wieder die Marginalen geworden, die wir zur Zeit Francos, Pétains, Mussolinis, Hitlers und Stalins schon einmal waren, aus anderen Gründen immerhin.
    Die damalige Einsicht büßt einiges von ihrer Brauchbarkeit für heute ein, wenn man sieht, was für ein gotisches Intellektuellenbild der Autor sich zurechtgelegt hatte: als wäre der geistige Mensch noch im vierten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Eremit auf dem Berge Tabor gewesen, von Epiphanien verzehrt, ekstatisch vereint mit den Zahlen und Urformen. Ortega muß davon geträumt haben, daß Don Quixote seine Schriften liest und zu neuen Fahrten aufbricht.
1. September, Ile Rousse
    In seinem Traktat L’avenir de la philosophie definiert Etienne Souriau, ein 1979 verstorbener akademischer Philosoph alter französischer Schule, seines Zeichens Professor für Ästhetik an der Sorbonne, die Seinsweise der Philosophie als ein Geschöpf der Bibliothek: Sie hängt von der Existenz von 50 Büchern ab, ohne deren Präsenz auf den Regalen sie keinen Bestand hätte. Die wenigen Basiswerke machen ihre Positivität, ihren Status als Metier, ihre Verwurzelung in der Schriftlichkeit aus. Was man das Denken nennt, beruht letztlich auf ein paar Autographen des Geistes. Zum Ausgleich gegen die lähmende Klassizität, so versichert der Autor – auch Editor eines sehr schulischen Lexikons ästhetischer Begriffe –, gebe es ein informelles Philosophieren, das in den Künsten verstreut ist. Auch nimmt das Denken wie nebenbei die Reflexionen der menschlichen Praxis auf allen möglichen Feldern in sich auf. Dank des Zustroms von außen vermag es die Philosophie, sich der Sklerose der bloßen Buchhaftigkeit zu entziehen.
    Als junger Mensch hätte man gern so einen Lehrer gehabt, der ohne Anspruch auf eigene Originalität mit dem Zeigestab durchs Gelände wandert. Souriau quillt von Kenntnissen über wie einenthusiastischer Fremdenführer, der nachts auf dem Forum Romanum kampiert, um seinen großen Toten permanent nahe zu sein. Vom frühen Morgen an absolviert er mit den Besuchern seine Runde, zu jedem alten Stein über eine Anekdote verfügend, zu jedem Tempel eine Theologie. Mitwissend wie ein Hausmeister reicht Souriau die Devise weiter, es gebe kein Denken ohne Verachtung, denn jeder große Geist habe sein innerstes Wogegen. Nun ja, wenn man es an der Pforte sagt. Beiläufig zitiert er das Wort aus Baltasar Graciáns Handorakel , wonach die »gebietenden Geister Könige sind durch ihren Wert, und Löwen, kraft angeborenen Vorrechts«.
    Souriau führt vor, bis wohin noch vor kurzem ordentliches Professorendenken im Schatten der internationalen Primadonnen reichte: Vom cogito zum cogitamus, von der positiven Kultur zur »Kultur der Kulturen«, die sich leise kokett als wahres Philosophentum vorstellt. Kein Zweifel, der Philosophieprofessor war einmal die Zukunft der Philosophie. Souriaus originelle Idee besteht in der These, es gebe zwischen Sein und Nichtsein eine Fülle von Zwischenstufen – so wie es viele Grauwerte gibt zwischen Schwarz und Weiß.
    Das hatte Hegel nicht vorhergesehen: Ein Kammerdiener, für den es doch einen großen Herrn gibt.
4. September, Ile Rousse
    Blättere in der Artemis-Ausgabe der Werke von Theokrit, die ich in der Hausbibliothek finde, amüsiert über das frühe Beispiel eines hochsprachlich programmierten Poesie-Automaten. Du wirfst eine Münze ein, der Dichter spuckt ein kunstgerecht geformtes Poem aus. Proballete! – »gebt mir irgendein Thema« –, hatte Gorgias den Athenern im Theater zugerufen, und aufs erste Stichwort folgte eine Prunkrede vor versammeltem Volk. Ähnlich Theokrits Dichtung. Sag Schaf, sag Berg, sag Liebesqual, gleich darauf klingelt es in der Billetausgabe.
    Über den Zusammenhang zwischen Übergewicht und Lüge. Gibt es auch einen digestiven Größenwahn, wie es einen imperialen und expressiven gibt?
    Die Altphilologen, früher eine Weltmacht, werden in Europa seit 1945 zunehmend an den Rand gedrängt. Doch noch dürfen sie mit einem Rest von Pathos zu den Nichtlateinern sagen: nostra res agitur. Etwas verlassener stehen die Ägyptologen da. Sie können nicht mehr behaupten, der Kampf um unser wahres Selbst werde am Nil entschieden, aber noch punkten sie mit den

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