Zeilen und Tage

Pyramiden und den Mumien. Völlig verloren scheint die Lage der Mesopotamisten, die nach einer kurzen Blüte um 1900 fast nichts in der Hand haben, um verbindlich zu erklären, worum es zwischen Euphrat und Tigris ging – was ebenso betrüblich wie irrig ist, weil dort zwei Dinge erfunden wurden, ohne die wir uns den Aufenthalt in der Welt nicht mehr vorstellen könnten, die Woche und die Freundschaft. Mittelloser als die Assyrologen sind nur die Erforscher der Amazonasvölker – falls nicht ein meteorisches Werk vom Himmel fällt wie jüngst das von Everett über die Pirahãs. Nach den Traurigen Tropen fehlt uns ein Buch über die traurigen Kulturen am Fluß.
    Der potamische Denker: Alles fließt. Der tellurische Denker: Alles wächst. Der statische Denker: Alles steht. Der apokalyptische Denker: Alles kollabiert. Der müde Denker: Alles umsonst.
    Die ersten Schriften im Zweistromland beruhen auf der Isolation der Silben. Vor dem Alphabet steht das Syllabarium. Die frühen Schreiber dringen ins Imperium der Silben ein und machen sie den Lautsymbolen untertan. Erst später erfolgt bei der Sequenzierung des sonoren Stroms der nächste Schritt, der zum »Buchstaben« bzw. zum Konsonanten führt.
    Theokrit: »Armut allein (penia mona) weckt in uns Kunst und Gewerbe (technas).«
6. September, Nizza – Hamburg
    Einen ersten Eindruck vom modus operandi der chinesischen Rechtskultur vermittelt ein Bericht Timothy Brooks in Vermeers Hut , der vom Schiffbruch eines portugiesischen Kauffahrers vor der Küste Chinas im Jahr 1625 handelt. Von den Überlebenden wurde eine beträchtliche Zahl durch einheimische Milizen noch am Strand niedergemacht, die übrigen gerieten in Gefangenschaft. Unter der Anklage der Piraterie wurden sie von Instanz zu Instanz weitergereicht, bis sie nach einem einjährigen Verfahren freigelassen wurden. Durch die Geschichte spukt hintergründig die Figur des weisen Richters à la van Gulik.
    Der Kernsatz des Eurozentrismus: »Kein chinesischer Kaufmann umsegelte die Erde und sah mit eigenen Augen, daß sie rund war.«
    Was wäre die Erde für ein freundlicher Stern, könnten die abstürzenden Osteuropäer und die frustrierten Nordafrikaner ins Reich der Mitte einwandern und nach acht Arbeitsjahren von der chinesischen Sozialhilfe leben.
    Bestellte Gefühle: Auf einer ganzseitigen Anzeige der französischen öffentlichen Dienste in Libération heißt es im aufrufend-befehlenden Ton: »En colère, le 7 septembre«. Millionen Staatsdiener werden zum angegebenen Zeitpunkt auf den Straßen von Paris ihre Zornsparbücher schwenken und die französische Republik an ihre Pflicht erinnern, die steuerfinanzierten Privilegien des service publique nicht anzutasten.
    Als um 1440 die ersten schwarzen Sklaven via Lissabon nach Europa gebracht wurden, begannen alsbald die Retouchen an vorhandenen Gemälden aus der heiligen Geschichte. Nicht nur wird Balthasar, der afrikanische König unter den Weisen aus demMorgenland, seither durchweg als Schwarzer dargestellt, auch werden ältere Balthasar-Bildnisse immer öfter schwarz übermalt. Der Drei-Königs-Tag entwickelt sich zum wahren Festtag der Globalisierung. Wie anders soll man es nennen, wenn auf den C + M + B-Bilder in Nordeuropa seit dem 17. Jahrhundert ein Neger, ein Armenier und ein Holländer durch die Wüste ziehen, um einem jüdischen Wunderknaben Geschenke zu überbringen, die ohne Welthandel nicht verfügbar wären? Das einzige, was im Stall von Bethlehem fehlte, waren die breitrandigen Hüte aus kanadischem Biberfell, von denen der Offizier auf Vermeers Bild ein Prunkexemplar auf dem Kopf trägt.
    John Donne: »Wenn ein Mensch stirbt, wird nicht ein Kapitel aus einem Buch herausgerissen, sondern in eine bessere Sprache übersetzt.» ( Devotion on Emergent Occasion , 1623)
    Essay: »Vereinigt« – Zur Weltgeschichte eines Beiworts. (Vereinigte Provinzen der Niederlande, Vereinigte Ostindische Compagnie, Vereinigte Staaten von Amerika, Vereinte Nationen, Manchester United.) Man stößt zuletzt immer auf die gemeinsame Geschichte der Transportmittel und der Humanassoziationen.
    Am Rande festzuhalten: England interessierte sich für Indien nicht wirklich, sondern brauchte den Subkontinent nur als Relais für den Handel mit China.
    Reisen macht traurig, sobald man unvorsichtig genug ist, die Mitreisenden anzusehen. Welke Berufstouristinnen in ihren Fünfzigern mit den Stränden von gestern in den Augen. Müde Mittelschichtmänner am letzten Rand des