Zeilen und Tage
Seitensprungalters, die täglich ihr Vitamin E zu sich nehmen, die Mühen der postvirilen Ebene vor sich sehend.
Man wird die grauen Nomaden früher oder später stoppen müssen. Die Rentner der Ersten Welt sind die Heuschrecken unserer Zeit.
7. September, Hamburg Paris
Nun zeigt sich, was »en colère« am Siebenten des Monats meinte. Der Flugverkehr über Frankreich ist weitgehend lahmgelegt, es besteht keine Aussicht, heute Korsika zu erreichen. Am Flugplatz Roissy hält das Personal die Passagiere zum Narren, indem man von Stunde zu Stunde illusorische Abflugzeiten bekanntgibt. Manche Fluggäste sitzen seit acht Stunden an ihrem Gate. Die Apathie hat die meisten so fest im Griff, daß sie kaum aufschauen, als sich in der Halle eine Explosion ereignet. Man erhält keine Aufklärung über die Ursache des Knalls.
In solchen Momenten erfährt man etwas über die Grundstimmung der Gegenwart, die in der Resignation der vielen angesichts undurchsichtiger Verhältnisse gründet. Da faselten die Konservativen zwei Jahrhunderte lang von Prometheus, dem aufständischen Titanen, der nichts beim Alten beläßt. Im Ernstfall sitzen die Leute in den Wartebereichen und lassen sich gefallen, was immer geschieht.
Ich entscheide mich für den letzten TGV nach Marseille, um von dort mit einer Frühmaschine nach Calvi zu kommen. Nachts tobt sich ein Gewitter über der Küste aus, auf dem Parkplatz vor dem Hotel huschen Ratten unter den Fahrzeugen dahin.
8. September, Ile Rousse
Warum es illusorisch sein dürfte, auf eine effiziente Klimapolitik zu warten, die solidarisch alle Staaten involviert: Längst haben die Experten ihre Modelle durchgerechnet, die demonstrieren, daß es neben den vielen Verlieren auch eine Gruppe von Klimawandelgewinnern geben wird, insbesondere Länder in den nördlichen Breiten wie Kanada und Skandinavien, von denen man wenig tätiges Mitgefühl erwarten darf, wenn die Verwüstungen zunehmen, von kostenlosen Bekenntnissen abgesehen. Die Katastrophe wird Gewänder aus dem Hause Change & Chance tragen, sie zeigt schon jetzt den Happy Few ihr verführerischstes Gesicht. Man könnte das den Norwegen-Effekt nennen: Das Offshore-Erdöl hat man schon, nun wartet man auf den Chardonnay an den Küsten.
9. September, Ile Rousse
Für einen größeren Entwurf: »Immunität und Poesie oder: Der sekuritäre Imperativ und der Exzeß.«
Gelegentlich drängt sich der Gedanke auf, die wichtigsten Bücher seien die, die nie geschrieben wurden: Das entscheidende Werk über Religion und Nervlichkeit bildet seit mindestens zweihundert Jahren die große Lücke in der philosophischen Bibliothek. Hätte es seit 1810 vorgelegen, viel vulgärmaterialistischer Unfug samt komplementärer idealistischer Apologetik wäre der Nachwelt erspart geblieben. Nervlichkeit ist die physiologische Prämisse für Weltoffenheit, diese wiederum betätigt sich als Auftraggeberin für alle Modi der Protektionsarchitektur.
Fazit: Nicht notwendigerweise liefert die Geistesgeschichte die wichtigsten Begriffe in der richtigen Reihenfolge. Weil das unselige Konzept »Religion«, das nach der Reformation aufkam, um einen dritten Standpunkt über den kämpfenden Konfessionen zu markieren, dreihundert Jahre älter ist als das des Immunsystems im biologischen Wortsinn, den ich jetzt zum Begriff von institutionalisierten Schadenserwartungen überhaupt fortführe, sind die Gehirne der Europäer in der falschen Reihenfolge programmiert und dadurch fast irreversibel verdorben. Der unverzichtbare Begriff »Weltoffenheit« gelangte viel zu spät in die Debatte – durch Max Scheler um 1920 eingeführt. Daß der Mensch das »rituelle Tier« ist, hat Wittgenstein ebenfalls mit fataler Verspätung notiert.
Jetzt käme es darauf an, die fruchtbaren Konzepte: Weltoffenheit – Zwischenwelt – Immunität – Ritual – Nervensysteme – Übung – Stress und einige andere in einer Kette gleichzeitig gemachter Ausdrücke zu verbinden. Ein erfreuliches Nebenergebnis dieser Arbeit könnte darin bestehen, nicht auf den Begriff »Religion« zurückgreifen zu müssen, gleichzeitig das Bezeichnete besser zur Geltung zu bringen als jede bisherige »Religionswissenschaft«.
10. September, Ile Rousse
Ob nicht Toni Negri sogar recht hat mit seiner Behauptung, Europa bewege sich auf einen Etatismus ohne Staaten zu? Das käme der Diagnose gleich, daß wir in einem System aus Staaten ohne Staatsbürger leben – für die südeuropäischen Länder fast eine Trivialität – und
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