Zeilen und Tage
Machthaber sein wird. Wie naiv waren Sartre und de Beauvoir, als sie für ihren Beziehungshaushalt die Unterscheidung von »amour nécessaire« und »amour contingent« einführten. Damit hat eine Generation von treu-untreuen Liebenden ihre Mahlzeiten bestritten. Wenn ich das Hauptgericht bin, darfst du die Beilage wählen. Paß aber auf, die Liebe, von der wir jetzt reden, ist weder notwendig noch zufällig, sie ist strategisch. Auch ein Staatschef, der den Schlüssel zur Atombombe in der Tasche hat, kommt nicht über den Status eines Zwischengerichts hinaus.
Der Autor sollte wieder auftreten und sagen, mein Wille geschehe. Was geschieht wirklich? Ein müder Professor, im Sesseleingesunken, denkt sich, es wäre gut, eine Katze zu streicheln. Schon eine vorbeilaufen zu sehen, wäre ein Gewinn. Etwas von ihrer Lebendigkeit könnte er doch mitnehmen.
13. Juli, Althütte
In den Monaten ohne »r« ist der Glaube an die Klassiker unmöglich. Dennoch strömen gerade dann die Menschen zu den Festivals wie zu den Stränden. Man muß sie sich in den Konzertsälen wie auf Handtüchern liegend vorstellen.
Marie d’Agoult schilderte den ersten Eindruck, den sie von der Erscheinung Franz Liszts, damals zweiundzwanzig, mitnahm: »unruhige Miene, wie die eines Phantoms, das jeden Augenblick in die Finsternis abgerufen werden kann«. Glückliche Zeiten, als es genügte, verdammt zu erscheinen, um von einer der klügsten und schönsten Frauen des Jahrzehnts geliebt zu werden, spätere Entfremdung nicht ausgeschlossen.
Liszt empfing mit 54 Jahren die niederen Weihen und die Tonsur. Es ließ sich von da an Abbé nennen. Die romantische Entelechie war vollendet, der Virtuose war in den Klerus zurückgekehrt.
Lese eine dubiose Dissertation über das Motiv des Teufelsvirtuosen, das außer konventionellen Hinweisen auf Paganini wenig zu bieten hat. Der Verfasser hat kein Gespür für den kunstmetaphysischen Gehalt des Teufelspakts als Ermächtigungsprozedur moderner Kunst. Die entscheidenden Botschaften werden von hinkenden Boten überbracht.
15. Juli, Karlsruhe
Wenn das Leben eine Casting Show wäre? Ist nicht überall die Suche nach geeigneten Bewerbern für die oberen Plätze in Gang? Nur daß die Ausschreibungen okkult geschehen und daß dieKandidaten nicht wissen, auf welchem Gebiet der Star gesucht wird.
Beruf: Fachmann für nicht-periodische Kachelsysteme
16. Juli, Bonn
Entgegennahme des »Cicero«-Rednerpreises in dem alten Parlamentsgebäude, das fast bis auf den letzten Platz gefüllt war. »In diesem hohen Haus«, wie die Redner hier zu sagen pflegten, soll also allen Ernstes Gutes über meine Arbeit und ihren Verfasser vorgetragen werden. Das Protokoll sieht vor, daß ich mich durch eine Art von schöpferischer Konfession revanchiere. Hierfür habe ich ein kleines Vortragsstück von dreißig Minuten in petto, an anderer Stelle erprobt, worin ich die von Roland Barthes kommentierte Unterscheidung zwischen dem Schriftsteller, der absoluten Text erzeugt, und dem Schreibenden, der Gebrauchstext herstellt, für die Philosophie reklamiere. Der philosophische Text kann nicht ganz die Absolutheit des literarischen erreichen, die Höhen der Nietzscheschen und Sartreschen Prosa ausgenommen, aber er vermag sich ihr so weit zu nähern, daß er auch ästhetisch gelesen werden kann. Die philosophische Prosa hat Anteil an den syntaktischen Glückstechniken, die man Literatur nennt.
Der Preis besteht in einer Bronze-Büste des Rhetors auf einem hölzernen Sockel.
Bazon Brock und Gerd Ueding halten die rühmenden Reden auf den Laureatus, Bazon, indem er mich physiognomisch in die Rembrandtwelt einordnet, Ueding, indem er die Kunst der Rede als soziale Funktion herausstellt. Gelobtwerden ist nicht meine Stärke.
»Wenn der Verbrecher durch den Vorrang des Weges gegenüber dem Zustand charakterisiert wird, dann ist die Erzählung verbrecherisch.« (Michel de Certeau, Kunst des Handelns , 1988, S. 237).
Das scheint nicht für alle Fälle richtig zu sein, denn die primäre Funktion des Erzählens ist, wie Greimas gezeigt hat, eine heilende. Die vorgetragene Geschichte dient zuerst der Wiedergutmachung. Sie beginnt bei einem ungestörten Zustand: Es war einmal ein glückliches Dorf … Sie berichtet sodann vom Einbruch der Störung: Eines Tages kam ein fremder Reiter mit roten Haaren ins Dorf … Sie endet mit der Wiederherstellung des verletzten früheren Zustands: Erneut steigt der Rauch aus den Kaminen, der Friede ist zurückgekehrt.
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