Zeilen und Tage
erste Lebewesen, das ihm nach glücklicher Landung am Strand begegnet, dem Gott Poseidon zu opfern – und es ist sein eigener Sohn Idamante.
Man könnte sich überlegen, was für Verallgemeinerungen entstanden wären, wenn Freud mehr ein Mozartverehrer als ein Leser von Sophokles gewesen wäre – auf Wiener Boden keine per se abwegige Hypothese, unplausibel nur angesichts der Tatsache, daß Freud ganz unmusikalisch war. Doch stellen wir uns einen musikalischen Freud vor, einen Freud, der das Ereignis Idomeneo begreift: Dann würde jetzt die Furcht des Sohns, vom Vater geopfert zu werden, als der Grundkonflikt des psychischen Apparats gelten und die Psychoanalyse müßte sich darum bemühen, bei Neurotikern den Idamante-Komplex aufzulösen – was mit Sicherheit mehrere Jahre dauert, ja eigentlich ein ganzes Leben.
Deleuze und Guattari hätten einen Anti-Idamante geschrieben, wahrscheinlich ein besseres Buch als das, mit dem sie berühmt wurden; der vaterlos aufgewachsene Sartre würde in seiner Autobiographie erklärt haben, warum er unanalysierbar gewesen sei – ihm fehlte die grundlegende Drohung; in den Wohngemeinschaften von 1968 würde man wilde Analysen praktiziert haben, bei denen das Fehlen von Furcht vor der Opferung durch den Vater, wie sie bei einigen Mitbewohnern immer wieder zu beobachten war, als kleinbürgerliche Abwehr von echten Gefühlen durchschaut worden wäre.
Nach der Aufführung gibt es einen kleinen Empfang mit dem Regisseur und den Sängern hinter der Bühne, wo ich Annette Dasch (als Elektra) und Juliane Banse, die die Ilia gegeben hatte, gratuliere, eigentlich ein absurder Sprechakt, denn Sänger stehen zwar nach dem Ende der Vorstellung scheinbar präsent inmitten der Leute, von denen sie sich feiern lassen, in Wirklichkeit sind sie noch in einem Zwischenreich, in dem sie Gäste und Kollegen als redende Farbflecken wahrnehmen. Dann hinaus in die Nachtluft. Eine kurze Wanderung mit den Freunden zum Viktualienmarkt, um den Tag nach Münchener Üblichkeit mit eisstangengekühltem Bier zu beenden.
8. Juli, Karlsruhe
An die Wiederaufnahme der Arbeit an Du mußt dein Leben ändern ist in den kommenden zwei Wochen nicht zu denken. Bis dahin muß es genügen, Materialien zu sichten und Bausteine an die Rampe zu schaffen.
In welchem Sinn Genie Schüchternheit in einem anderen Zustand sein kann, das wäre an dem jungen Kafka zu zeigen. Lese täglich einige Kapitel in Rainer Stachs exzellenter neuer Kafka-Biographie, an der nur die Breite der neurotischen Beziehungsgeschichten mißfällt ( Kafka − Die Jahre der Entscheidung ). Was tun, wenn man nicht einmal Kafka zuliebe Fräulein Bauer näher kennenlernen möchte? Ich gäbe einiges dafür, von Kafkas Verrenkungen und Ausweichmanövern nicht so viel erfahren zu müssen. Stach weiß natürlich, worin das Elend des Biographismus besteht, doch die Kenntnis der Versuchung schützt ihn nicht davor, ihr zu erliegen. Seine beste Einsicht scheint zu sein, daß es bei Kafka zwar ein autobiographisches Schreiben gibt (was eine Trivialität wäre), doch mehr noch ein literarisiertes Leben – mit dieser Umkehrung verläßt man den trivialen Zirkel. Für den lebensgeschichtlichen Wust wird man durch Sätze entschädigt wieden, er, Kafka, der Autor, habe immer nur dahin gewollt, wo er eigentlich hingehöre, in die »ewige Hölle der wirklichen Schriftsteller«. Kafka wußte genug von Kleist, von Dostojewskij, von Flaubert, um neben ihnen, und nur neben ihnen, geschunden werden zu wollen. Dieses Verlangen erzeugt die Höhe, von der herab er sein eigenes soziales Nichtsein, seine vitale Insuffizienz, sein menschliches Versagen zu Protokoll geben kann, als wäre das der normale Preis für seine literarische Erwählung.
Nicht vergessen: Gregor Samsa dachte anfangs, seine Verwandlung in den Käfer sei wohl nur eine Folge von Übermüdung. Es genüge, auszuschlafen, um zur Menschengestalt zurückzukehren. Das Drama beginnt, wenn man als ausgeruhter Käfer in seinem Zimmer sitzt und begreift, daß es kein Zurück gibt.
Objektwahl auf den Höhen der politischen Prominenz: Man muß sich Sarkozy als Maskottchen einer klugen Daseins-Essayistin denken, die ins Elysée spaziert ist wie eine Matterhorntouristin in Sommerschuhen. Bei dieser Promenade ist die Vormacht der Damenwahl evident. Der Einkaufsbummel geht weiter, wenn die Laune der Käuferin sich ändert. Die Bahn des Alphaweibchens führt über den aktuellen Partner hinaus, sobald der ein ehemaliger
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