Zeilen und Tage
kann – fast immer. Er hatte ihn aufgespürt als den Deserteur, der vor seiner Freiheit versagt und die Fremdbestimmtheit wählt, ihn entlarvt als das Wesen, das am liebsten »ich konnte nicht anders« sagt. Über der ganzen Epoche stand, monumental und demütigend, die riesenhafte Silhouette des Menschen ohne Ausrede.
Dann drehte der Wind, die Lichtverhältnisse änderten sich. Der Strukturalismus brachte die Erlösung vom Fluch der Freiheit, indem er noch die kreativsten Subjektivitäten in Zwangssysteme formaler Bedingtheiten auflöste. Der Unwille, ein Subjekt zu sein, wurde seiner Rechte bewußt. Nie wurde der Wille zur Ohnmacht besser bedient, nie war die kleinbürgerliche Mutlosigkeit theoretisch bequemer aufgepolstert. Die Ausrede war zur dominierenden Rede geworden – und nannte sich Diskurs. Lévi-Strauss gab den Quietisten aller Couleurs das gute Gewissen, Althusser reichte den rebellischen Sklaven von Paris das Futter, der frühe Foucault lieferte epistemische Fremdbestimmung ad libitum, indem er zeigte, wie das sogenannte Denken in diskursiven Regelmäßigkeiten gefangen ist – er war es, der später die stärkste Gegenwendung vollzog.
In diesem Klima wurde hierzulande der Übergang des Strukturalismus französischen Stils zur Systemtheorie Bielefelder Schule quasi unausweichlich, obwohl Luhmanns Genie hierfür eine Randbedingung erfüllte, die niemand im voraus hätte benennen können.
Beginn eines Romans aus der besten Welt.
Der Held, ein Intellektueller fortgeschrittenen Alters, sitzt am Schreibtisch, es ist später Vormittag, nein, fast schon Mittag. Er spürt, etwas liegt in der Luft.
Plötzlich bemerkt er, der ausgekühlte Earl Grey Tee vom Morgen in der gelben Tasse ist dunkler geworden. Er zieht an seiner Maria Mancini und bläst den Rauch gegen den Bildschirm.
Das Ereignis steht vor der Tür. Stahlgrün leuchtet der Traminer im Glas neben dem Keybord.
Jeden Augenblick kann es beginnen.
23. Dezember, Wien
Die Leugner des Klimawandels zeigen höhnisch auf den Schnee und sagen: »Schau, gefrorene Erderwärmung!«
Saddam Hussein wird ohne Zweifel in die Mediengeschichte eingehen, jedoch anders als Adolf Hitler, dessen folgenschwere Affaire mit dem damals neuen Medium Radio bekannt ist. Saddam hielt es mit dem alten Medium Schrift – auf eine subversive, tückische, obszöne Weise.
Nach dem Bericht von Telepolis , das sich auf Informationen der britischen Zeitung The Guardian stützt, gab Hussein anläßlich seines 60. Geburtstags 1997 einem Kalligraphen den Befehl, den Koran abzuschreiben – was nicht weiter bemerkenswert gewesen wäre und allenfalls für ein spät erwachtes religiöses Interesse beim Auftraggeber zeugte, hätte der listige Tyrann nicht eine sehr spezifische Tinte für sein kalligraphisches Projekt vorgesehen. Saddam verlangte, daß der Koran mit seinem eigenen Blut geschrieben würde – zu diesem Zweck ließ er sich während der rund zweijährigen Schreibarbeiten durch eine eigens hierfür bestellte Krankenschwester in regelmäßigen Abständen Blut abzapfen. Es sollen insgesamt 27 Liter Blut für das Projekt geflossen sein. Zwar muß dem Urheber des Kopierfrevels das Unrechtmäßige seines Tuns bewußt gewesen sein, jedoch konnte er mit einiger Zuversicht darauf rechnen, daß keiner von seinen Nachfolgern es wagen würde, an dieses perverse heilige Buch zu rühren.
Folglich durfte der Diktator sich dessen gewiß sein, mit seinem blasphemischen Coup eines Tages Teil der heiligen Geschichte des Islam zu werden. Als Bastard-Märtyrer vergoß er sein Blutin ein korruptes Tintenfaß. Er brachte es fertig, seinen Anspruch auf ewige Aufbewahrung in materia geltend zu machen, indem er das legitimste Wort der arabischen Welt mit der illegitimsten Tinte niederschreiben ließ.
Es mag nützlich sein, daran zu erinnern, daß Saddam als vaterloser Außenseiter in einem Dorf bei Tikrit aufgewachsen war, der Stadt, in deren Nähe man ihn zuletzt aus einem Erdloch zerrte. Seine Mutter soll während der Schwangerschaft einen Selbstmordversuch und einen Abtreibungsversuch unternommen haben.
Der Kalligraph, ein großer Name in seinem Metier, lebt heute in Virginia, gibt nur selten Interviews und möchte den makabren Vorgang am liebsten vergessen. Irakische Autoritäten stehen vor der Verlegenheit, das mehr als 600seitige Dokument aufbewahren zu müssen, da seine Zerstörung nicht in Frage kommt. So wird es heute in der vormaligen Mutter-aller-Schlachten-Moschee bei Bagdad, die
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