Zeilen und Tage
sowie 2 Millionen Schafe, 8,2 Millionen Katzen und 5,5 Millionen Hunde. Ein Zugehörigkeitsproblem wird in bezug auf diese Kreaturen nicht diskutiert. Nimmt man das überbordende kurzlebige Geflügel dazu, obendrein das Wild, wird man feststellen: Die Deutschen sind im Verhältnis zu ihren tierischen Mitbewohnern eine Minderheit im eigenen Land, eine Minderheit, von der man nicht behaupten darf, daß sie der Mehrheit das Leben leichtmacht. Der Internationale Krähen-Rat (IKR) bereitet eine Erklärung vor, wonach auch die Deutschen zu den Vereinten Nationen der mitteleuropäischen Tiere gehören – was von den Vertretern der Deutschen-Organisationen mit Genugtuung aufgenommen werden wird.
Es ist wenig bekannt, daß Adolf von Harnack als Redenschreiber für Wilhelm II. tätig war – namentlich bei dessen Ansprache am 11. Oktober 1910 zum 100jährigen Jubiläum der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, nachmals Humboldt-Universität. In ihr wurde die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angekündigt, die nach dem Zweiten Weltkrieg Max-Planck-Gesellschaft heißen sollte. Bemerkenswert scheint, daß es ein liberaler protestantischer Theologe war, der hierzulande die institutionellen Prämissen zur »wissenschaftlichen Weltbezwingung« schuf. Harnack lag das Unternehmen am Herzen, weil er als Historiker des Leibnizschen Akademie-Gedankens die Naturwissenschaften als treibende Kraft des industriegesellschaftlichen modus vivendi erfaßt hatte.
In seiner Person verdichtete sich die Verweltlichung des liberalen Protestantismus, gegen den der junge Karl Barth, selbst Harnack-Schüler, am Ende des Ersten Weltkriegs mit seinem steilen Römerbrief-Kommentar zu Felde zog. Hundert Jahre später hat sich der Betrieb wieder den Harnackschen Positionen genähert. Theologie heute ist Fortsetzung der Konsumgesellschaft mit meditativen Mitteln. Die neo-vertikale Intervention, wie sie mit Du mußt dein Leben ändern vorliegt, läßt die Theologen kalt, weil sie als Fachidioten für die Öffnung zum Anderen in der Mehrheit glauben, das Buch falle nicht in ihr Gebiet.
Der Nekrolog auf Hermann Scheer mitsamt dem Hinweis auf sein letztes Buch Der energ-ethische Imperativ ist abgeschlossen und an die Zeit abgeschickt. Dort hat man offensichtlich vor, zur Würdigung des Verstorbenen mehr als nur einen Artikel zu bringen.
Wissenschaftliche Institute weisen auf die Existenz von 10000 bis 11000 »Bio-Invasoren« hin, sprich von Lebewesen, die aus fremden Biotopen in europäische Umwelten importiert wurden und von denen nicht wenige – wie die Beifußambrosie alias Ragweed – als Allergieerreger berüchtigt sind oder durch Störungder Ökosysteme Schäden anrichten. Einen herausragend üblen Ruf als unwillkommene Lebensform mit Migrationshintergrund haben sich die Wandermuscheln, auch Zebramuscheln genannt, erworben, die im Begriff sind, die einheimischen Seen zu destabilisieren. Sie sollen vor über hundert Jahren mit dem Ballastwasser von Schwarzmeerschiffen eingereist sein und verbreiten sich seither rapide in europäischen Gewässern.
22. Dezember, Wien
Vom Haus der Kulturen in Berlin kommt eine Einladung für Mitte Mai 2011 zu einem Dialog mit dem francophonen Dichter und Kulturphilosophen Edouard Glissant – von dessen Werk ich wenig wußte, außer daß er als Poet der Archipele so etwas wie ein ferner Verwandter sein könnte. Gelesen hatte ich von ihm noch keine Zeile. Ich schlage nach und finde: Mit seinen Überlegungen zur Kreolisierung der Kultur liefert er eine neuartige Sicht auf das Problem der bastardischen Identitäten, nicht für die endogenen Illegalen in der westlichen Hemisphäre, sondern für Menschen aus den Agglomerationen an der karibischen Peripherie, deren Bevölkerung aus einer Summe von Entwurzelungen hervorgegangen ist. Der Dialog ist für 14 Uhr programmiert – nicht gerade der Beginn von Hauptveranstaltungen.
Gäbe es das Auge Gottes, was würde es heute beobachten? Es hätte Monitore vor sich, durch die sämtliche menschlichen Bewußtseine gescreent werden. 7 Milliarden homines sapientes meist ohne besondere kognitive Vorkommnisse, 700000 Kreative, deren Output die Evolution treibt, 700 Pulsare auf genialer Frequenz, deren Namen man später in Kulturgeschichten findet, 7 seraphische Intensitäten, deren innere Prozesse auch für Gott informativ sind.
Es läßt sich nicht leugnen, der Existentialismus hatte den Menschen überbelichtet. Er hatte ihn bloßgestellt als das Wesen, das immer etwas tun
Weitere Kostenlose Bücher