Zeilen und Tage
Verbrecherisch wird die Erzählung, wenn sie die Idee der Wiederherstellung fallenläßt, um nur noch Wege, Störungen, Einbrüche von Rothaarigen zu schildern.
19. Juli, Althütte
Vertreibe mir die Zeit mit einer Studie über Pawlow, den Hundespeichel-Mann, die ich vermutlich für das Schlußkapitel des Übungsbuchs gebrauchen kann. Für Pawlow waren die Phänomene Konditionierung und Disziplinierung bedeutsam, weil sie bei der massenhaften Erzeugung des Neuen Menschen zum Einsatz gelangen sollten. Das Ziel der sowjetischen Neurophysiologie war strategisch vorgegeben: Sie sollte der Naturalisierung der Ethik dienen. Nach Pawlows Annahmen beruht ethisches Verhalten vor allem auf der Fähigkeit zur Inhibition von Impulsen und Reflexen. Diese Fähigkeit wurde in der alten Welt durch den Staat, den Universal-Inhibitor, eingeschliffen. Diesen Staat wird der Neue Mensch überflüssig machen, weil er das Hemmungssystem in sich selber tragen wird.
Ähnliches hatte schon Tschernitschewski in seinem Roman Was tun? 1864 verkündet. Der Mensch von morgen kann nur ein Fakir sein, der äußeren Zwang durch inneren überholt hat. Rametov, der Held des Buchs, schläft auf dem Nagelbrett und hältstrenge Diät, sexuelle Impulse hat er vollkommen unter Kontrolle. Die russische Intelligentsia treibt Aufklärung durch Studium der »Reflexe des Gehirns«.
»Ich aber beschloß, Naturwissenschaftler zu werden« – dieser virtuell allgegenwärtige Satz inauguriert die Biographien unzähliger junger Männer jener Zeit. Bei ihnen wird das Aufnadeln von Fröschen zur Passion, ganze Froschvölker werden für das Wohl der Menschheit von ihnen gekreuzigt – man muß Bazon Brock über dieses Thema reden gehört haben! Einer dieser Wohltäter in spe war Pawlow, der auf einem Priesterseminar erzogen worden war. Sein humaner Ehrgeiz ließ aus ihm einen der schlimmsten Tierquäler der Wissenschaftsgeschichte werden, der Vivisektion im größten Stil betrieb. Seine berüchtigten Speichelfluß-Experimente wirken heute so grob, als hätte man mit Gewehrschüssen auf eine Uhr deren inneren Teile analysieren wollen.
Das Phänomen Napoleon: ein historisches Denkmal für die französische Blindheit gegen den maritimen Imperativ. Die populären Erinnerungen an den Mann, der von einer Insel kam und auf einer Insel endete, sind wesenhaft romantisch, vorausgesetzt, daß es Romantik nur als Liebe zur verlorenen Sache geben kann. Die größte Wirkung Napoleons ging nicht von seinen Siegen aus, sondern von seinen Niederlagen. Er hat die Romantik vollendet, indem er die flamboyante Form des Besiegtwerdens in die Welt setzte. Man versteht, warum die Deutschen sich dieses Exempel zu Herzen nahmen. Wenn schon Politik das Schicksal ist, dann war es ihre Mission, das Scheitern beim Anrennen gegen den Rest der Welt noch einmal auf die Bühne zu bringen.
Hat jemand bemerkt, daß Lacans Lehre von der Einsetzung der symbolischen Ordnung im »Namen des Vaters« ein verstümmeltes Zitat der christlichen Formel »Au nom du Père et du Fils et du Saint Esprit« darstellt? Nur als magisches Halbzitat konnte die Doktrin erfolgreich werden, da es im laizistischen Frankreich niemandem in den Sinn kommt, sie zu ergänzen.
Ihre verrücktmacherische Wirkung sollte sich inzwischen gezeigt haben, verrücktmacherisch, weil aus undurchschaubaren und ungestehbaren Antrieben gespeist – Lacans Kryptokatholizismus mit Freuds Kryptojudaismus multipliziert, das Produkt kann kein Mensch verstehen. Natürlich wußten die jungen Leute von 1930 längst, daß der Vater eine Fiktion ist, ein Wandschirm vor der Anarchie und dem Nichts. Trotzdem oder eben deswegen klammerten sich viele an die Behauptung, es werde ohne diese Fiktion auch künftig nicht gehen. Man war dazu verurteilt, gleichzeitig zu wollen, was zusammen nicht zu haben ist, das Durchschauen der Fiktion und deren ungebrochene Geltung. Zur Autorität flieht häufig, wer ihre Hohlheit ahnt und fürchtet. Den Vater zu überhöhen ist geneigt, wer keinen glaubwürdigen hatte oder gar keinen.
Da steht er nun, der moderne Sohn, der nach Halt lechzt. Er springt aufs Podium und dekretiert: Was ein Vater ist, das bestimme ich! Heute sieht man, die großen katholischen Nihilisten des 20. Jahrhunderts, Carl Schmitt und Lacan, saßen im selben Boot – Usurpatoren, die so taten, als wollten sie sich für die legitime Ordnung stark machen. Über die Verlegenheiten des unglücklichen Bewußtseins im frühen und mittleren 20. Jahrhundert
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