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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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frei, die Wirkungen machen sich von der Fessel der vollkommenen Ursachelos, ja, sie lassen die Anfänge arm aussehen und stürzen sich in den nach oben offenen Prozeß.
    Wie kümmerlich Anfänge aussehen, sobald stramme Evolutionisten in die Debatte eingreifen, ist unter anderem daran zu erkennen, daß man neuerdings das Auftauchen von homo sapiens aus dem günstigen Protein-pro-Quadratmeile-Verhältnis in der Savanne herleiten möchte.
    Das Menschenauge liebt es, die intelligible Landschaft von einem leicht erhöhten sicheren Standort aus zu überblicken. Die vielkommentierte Denkfigur »Schiffbruch mit Zuschauer« ist ein Modernismus, dem 100000 Jahre savannenästhetisches Sehen vorausliegen. Hier läßt sich schon die Bifurkation der Geschlechterweltbilder ablesen: Frauen bevorzugen zunächst eher Landschaften mit Zufluchtschancen und Blüten, Männer solche mit weiten Sichten für Expeditionen und Jagdchancen.
    »Ein Zimmer mit Aussicht« ist ein bioästhetischer Archetypus, präfiguriert in einer Zeit, als Menschen noch nicht wissen konnten, was Zimmer sind. An Landschaften üben die Menschen den ersten Blick in die Zukunft: Sie sehen den Horizont und wissen, daß es dahinter weitergeht. Zur Zeit wird hier der Raum.
    Wahrscheinlich kommt auch der Humor aus der Savanne. Früh bildet sich dort unter Männern der Habitus aus, die Jagdgefährten mit scherzhaften Beleidigungen aufzuziehen. Bei ihnen schon dienen Humor, Witz und Pantomime als Ventilspiele zum Abbau von Aggressionen zwischen Rivalen und zur Abreaktion von vitalen Antriebsüberschüssen. Wir sind Nachkommen von Jägern, die wußten, wie weit man beim Spott auf die Kameraden gehen durfte. Die sokratische Ironie wird im Vergleich mit diesen Usancen stark überschätzt. Sie ist nur ein ferner Ableger des paläolithischen Männergruppenhumors. Von dem präsentiert allenfalls Platos Symposion in der Anfangspassage oder in den Aristophanes- und Alkibiades-Abschnitten einen urban versetzten Reflex.
13. Februar, Karlsruhe
    In den Nachrichten bedrückende Bilder von der Insel Lampedusa. Der Ansturm von Flüchtlingen aus Nordafrika hat begonnen. Die Schicksalsmaschine arbeitet mit der bekannten Ungerührtheit. Aus geographischen Gründen fällt zuerst den Italienern die Aufgabe zu, die unmenschlichen oder minimal-menschlichen Maßnahmen der Küstenwache durchzuführen, später wird die unumgängliche Häßlichkeit auf die übrigen europäischen Nationen übergreifen. Bisher sind mehrere Tausend Flüchtlinge auf der Barackeninsel gelandet, man vermutet, es könnten bis zum Frühjahr 25000 werden. Schon jetzt setzt Italien die nördlichen Nachbarn unter Druck, ihm die unwillkommenen Zuwanderer so bald wie möglich abzunehmen. Im übrigen hatte Muammar al-Gaddafi bei seinem Staatsbesuch in Italien im August 2010 die Europäer vor potentiellen Millionenheeren afrikanischer Zuwanderer in den kommenden Jahren gewarnt und zu deren Ruhigstellung am Ort Bleibegelder in Höhe von vielen Milliarden Euro aus europäischen Kassen gefordert. Von einer offiziellen Reaktion der EU auf diesen Droh-Hinweis wurde nichts bekannt.
16. Februar, Karlsruhe
    Zu François Julliens gestrigem Vortrag an der HfG über chinesische Ästhetik:
    Ihr scheinen die Begriffe des Schönen und Erhabenen unbekannt zu sein. Bemerkenswert ist, daß die Aktmalerei völlig fehlt, das Nackte hat keinen Status in der visuellen Kultur des Ostens erlangt. Es dominiert die Landschaft, die der gern geübten Betrachtung des wohltemperierten Unregelmäßigen die Gegenstände liefert. Nie hat sich die Zentralperspektive ausgebildet. Auch bietet die chinesische Sprache keine Begriffe an, die letzte Feststellungen bewirken, alles wird in Fluß und Übergang aufgefaßt. Weil es keine Buchstaben gibt, bleibt dem chinesischen Denken der Elementarismus bzw. der Atomismus unbekannt. Im Kontrast hierzu begreift man die europäische Ausnahme, weil nur in ihr der analytische Mythos, die Kultur der Elementarteilchen, aufkommen konnte.
17. Februar, Karlsruhe
    Las nachts das Buch von Sylvie Weil André und Simone , worin die Autorin von ihrer heiligen Tante und ihrem Vater, dem Mathematiker und Mitgründer der Bourbaki-Gruppe, plaudert. An einer Stelle wird ein Raisonnement von Simone Weil referiert: »Ich bin nicht, und ich willige ein, nicht zu sein, denn ich bin nicht das Gute, und ich will, daß allein das Gute sei.« So deutlich hatte man den doloristischen Syllogismus nie vor Augen: »Nur Gutes soll sein. Ich bin nicht

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