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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Stabilität von burgundischen Ehen nachdenken. Auf diesem Motiv ließe sich die Festrede in Frankfurt aufbauen.
    Bruno stellt in seinem Buch Jubilieren , das er im Jahr 2002 bei Synthélabo als eine Art von Privatfestschrift zum zweitausendjährigen Bestehen des Christentums herausbrachte, die Frage: Ist denn die Welt so wenig, daß man eine Transzendenz hinzufügen muß? In diesem Essay über die Qualen der »religiösen Sprache« dringt er in einen Bereich vor, in dem sich unter den Zeitgenossen kaum einer je so beharrlich aufgehalten hat. Er sucht den Punkt, an dem sich im Umgang mit den versteinerten kirchlichen Sprachspielen die Chance auftut, das evangelische Plasma anders zu formen. Latours stärkste These: Man muß erfinden, um der Wahrheit treu zu bleiben. »Die getreue Erfindung (l’invention fidèle), voilà; ich nähere mich endlich der Quelle, aus dem das Verfahren aller Erzählungen entspringt.«
    Wo es in Du mußt dein Leben ändern heißt, daß glauben üben bedeutet, sagt Latour: glauben ist variieren. Man glaubt nur, was man auch anders und immer wieder anders sagen kann. Auf der Suche nach der wahren Sprache kommen wir zuletzt bei der schöpferischen Variation an. In eigener Sache sollen wir polymythisch sein. Latour bekennt sich zu einem um 180 Grad gedrehten Bultmann-Effekt: statt zu entmythologisieren, soll man die Erzählungen vermehren – sofern es Liebeserklärungen sind.
    Übung und Variation konvergieren, das haben Kanzelredner so gut gewußt wie die Komponisten. Was man »Religion« nennt, ist ein Komplex von Etüden, die man sowohl intim als auch kollektiv praktizieren kann. Die musikalische wird zur Kunstform,wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: der Pianist glaubt an das Klavier, und das Klavier glaubt an den Pianisten. Mit dem Ritualwesen ist es ähnlich. Die Gläubigen gehen zur Messe (zur Sterbe-Übung), und die Messe (die Sterbe-Übung) dringt in die Gläubigen ein.
    Brunos häretische Grundthese: Ein Einzelner kann die ganze Kirche sein. Vorausgesetzt, der Einzelne handelt dem Gedanken gemäß: Im Substantiv »Geist« ist nicht mehr enthalten als im Verb »erneuern«. Dann ist in dem Wort »Gott« nicht mehr enthalten als im Partizip »Nähe erzeugend« oder: »Welt eröffend«. In der Latour-Kirche ist ein Satz wie dieser völlig plausibel: »Heiliger Friedrich, lehre uns beten.« Wenn es darum geht, sich vorbehaltlos einer überreichen, das Jenseits absorbierenden Welt zuzuwenden, dann ist Nietzsche einer der größten Lehrer. Der Gang des Geistes führt vom leeren Grab zum leeren Himmel und von dort hierher, in die Fülle der Bezüge.
    »Die Ewigkeit, das war gestern, wir haben es nicht begriffen. Die Zeiten waren erfüllt. Wir lebten weiter in der Abwesenheit.« (p. 162)
15. September, Ile Rousse
    Mit Brunos These, wonach alle intellektuelle Arbeit auf möglichst vielfältige Variation hinausläuft, kann man einverstanden sein, aber nicht ganz. Warum? Weil es mit dem Satz: andere Zeiten, anderes Wissen, nicht getan ist. Gibt es nicht auch in Wahrheitsfragen einen Zeitpfeil, der nach vorne zeigt? Muß es nicht heißen: Spätere Zeiten, besseres Wissen – vorausgesetzt, wir leben nicht in einer kognitiven Dekadenz? Wozu in einer Forschungskultur wie der modernen existieren, wenn man es bei einem fortgeschrittenen Stand der Untersuchung nicht wirklich besser wüßte als vorher? Für Latour heißt »besser«, scheint es, nur vielfältiger – ohne definitive Hierarchie zwischen den Sprachspielen. Aber gibt es nicht unter den Variationen eine, diemehr ist als eine unter anderen? War nicht unter den vielen möglichen Beschreibungen des Atoms eine, die zum Beweis durch die entfesselte Atomkraft führte?
    Polygonales Training: Latour – Luhmann – Gotthard Günther – Tarde – Heinsohn – Mühlmann – Brock – Schmitz – Deleuze – Kittler.
    Gabriel Tarde konzipierte eine »Gloriometrie«: die theoretische Beschreibung öffentlicher Wertzuschreibungen. Daraus folgt, die Ökonomie des Habens müßte durch eine Ökonomie des Geltens ergänzt werden. Eines Tages könnte die Theorie der Reputationswirtschaft das Mittelstück der Neuen Wissenschaft der Psychopolitik darstellen. Latours Essay Interêts passionn és wäre ein Baustein zur Seminarbibliothek des Fachs, auf das die entwerteten Sozialwissenschaften heute so verlegen warten.
    Die schöpferische Wiederholung ist das Verfahren, dem alles zu verdanken ist. Latour: »In jedem Fisch gibt es Teiche voller Fische, und so

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