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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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die man in Englands besseren Kreisen die Formel the easy conscience of effortless superiority anbietet. Einen Augenblick lang kommt es mir vor, als sähe ich den großen Gatsby von Dijon. Die Art, wie er sich an das Geländer zurücklehnt, drückt aus, es komme für ihn nicht in Frage, vor einer Kamera gerade zu stehen. Was ihn von dem amerikanischen Gatsby unterscheidet, ist die Entschlossenheit, bei aller Modernität der Tradition zu geben, was der Tradition gebührt – und dazu gibt es offensichtlich kein besseres Mittel als die Ehe. Wie könne man deren Anfänge besser unterstreichen als durch eine lune-de-miel -Woche in Italien?
    Der Soziologe Latour dürfte hierzu den Grundsatz assoziieren, daß die Konvention die engste Komplizin des Ausnahmezustands ist – einen Satz, den die Anarchisten des 19. und 20. Jahrhunderts bedauerlicherweise zu spät oder nie begriffen. Während aber der amerikanische Dandy im Nichts verschwindet, entschlossen zu einem Dasein ohne Nachkommen, weiß dieser junge Mann, was es heißt, in einer Überlieferung zu leben. Ich habe über das Haus Latour ein wenig recherchiert und herausgefunden, daß man dort Grund für Selbstbewußtsein hat. Wer zu einem Clan gehört, der 1797 an der Côte d’Or mit dem Weinbau begann – das ist das Jahr, in dem Napoleon den Gipfel seiner Erfolge im Italienfeldzug erklomm – und dieses Geschäft heute in der zehnten Generation betreibt,der kann nicht gut mit gesenktem Kopf durch die Welt laufen.
    Was die lächelnde junge Dame angeht, die später Bruno Latours Mutter sein wird, so erfüllt auch sie den eleganten Imperativ vollkommen. Sie gibt die Muse des burgundischen Gatsby an ihrer Seite mit jener Natürlichkeit, die man nur durch ein langes Training erwirbt, allenfalls könnte man an der Art, wie sie in die Kamera blickt, eine gewisse Unerfahrenheit ablesen. Sie gibt sich keine Mühe, ihr bestes Kameragesicht zu machen, statt dessen strahlt sie eine naive Herzlichkeit aus, die einer heiteren Braut am besten steht. Im übrigen ist auch sie, was ihr Kleid angeht, kein Kind der Bürgerzeit mehr, geschweige denn eines des ancien régime . Ganz offenkundig ist sie vom frischen Wind der Moderne erfaßt. Im Berlin der frühen Dreißiger hätte man dieses locker hängende Gebilde als todschick bezeichnet. Es wäre reizvoll, sich einen Essay aus der Feder von Gabriel Tarde über die Hochzeitsreisekleider der Damen von Beaune vorzustellen, in dem der Frage nachgegangen würde, auf welchen imitativen Strahlen die neuen Schnitte ins Rhônetal gelangten – leider spricht die Chronologie dagegen, Tarde hat im Jahr 1904 das Zeitliche gesegnet, und Bruno Latour, der glühendste Tardianer unserer Tage, muß auf den virtuellen Kommentar des Meisters zu dem Kleid seiner Mutter verzichten, so sehr uns dieser unter soziologischen Aspekten unentbehrlich scheint.
    Ersatzweise möchte ich die Überlegung beisteuern, daß um 1930 die kubistische Revolution des Sehens, mit der die bildende Kunst der Moderne im engeren Sinn begonnen hatte, längst in die Alltagskultur übergesprungen war. Nicht zuletzt hatte die weibliche Mode der zwanziger Jahre den Kubismus rezipiert und widmete sich der Herausforderung, die moderne Frau mit Hilfe von ungewohnten Schnitten in Würfel, Säulen und Tetraeder zu verwandeln – als wolle sie den Satz einüben: zum Frau-Sein in unseren Tagen gehört die Fähigkeit, Designer-Abstraktionen von der Weiblichkeit zu tragen. Wie dem auch sei, Monsieur Latour gefällt, was er sieht, er findet auchnicht-kubistische Zugänge zu Madame – und, was das Entscheidende ist: er findet sie über lange Jahre hinweg, ja über Jahrzehnte. Kurzum, die Botschaft des Bildes ist evident: Wer sich für das Phänomen Latour interessiert, sollte es nicht versäumen, über das Problem der Dauer nachzudenken, nicht so sehr über jene Dauer, die der große Henri Bergson unter dem anregenden Begriff der durée zur Debatte gestellt hat, sondern über die Dauer, durch die sich manche burgundische Ehen auszeichnen.
    Meine Damen und Herren, nun muß ich um Ihre Nachsicht dafür bitten, daß ich der Versuchung nicht widerstehen kann, noch einmal auf den virtuellen Roman zurückzukommen, der über das tiefe Frankreich von damals geschrieben werden könnte. Ich weiß nicht, ist es ein gutartiger, ist es ein boshafter Geist, der mir einflüstert, es müsse in dem burgundischen Epos eine Szene geben, die von der philosophischen Erleuchtung eines jungen Mannes aus Beaune handelt.

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