Zeilen und Tage
Antibiotika.
Wolfgang zeigt mir die »Konversationshefte« Beethovens. Ein Staubkorn Genialität in einer Wüste aus Alltäglichkeiten zerstreut.
Lese Korrekturen von La folie de dieu ( Gottes Eifer ), entsetzt über die vielen Fehler, die weder vom Übersetzer noch von den Korrektoren wahrgenommen wurden.
11. September, Karlsruhe
Du mußt dein Leben ändern ist in der Rohfassung abgeschlossen, einige Lücken abgerechnet. Es fehlt die Konklusion.
Gebrauchte Künstler (Berater, Politiker, Moderatoren, Heiler usw.) günstig abzugeben.
Um unwillkommene Nachahmungen zu vermeiden, mußt du darauf achten, daß in deinen Büchern nirgendwo ein kopierbarer Jargon auftaucht. Wer mit deinen Impulsen weiterarbeiten will, soll von inhaltlichen Fragen ausgehen oder von der Atmosphäre, die die Arbeit umgibt. Man hat behauptet, die wahren Autoren seien nicht Verfasser von Büchern, sie seien Diskursgründer – sie hätten neue Kontinente für das Reden erschlossen, so wie Freud den Traum besprechbar machte, Adorno die linke Melancholie und Foucault das Archiv. Nichts könnte falscher sein. Wirkliche Autoren sind nur diejenigen, die die Entstehung eines Diskurses verhindert haben. Du mußt die Nachahmung entmutigen, bevor sie zum Herrn der Szene wird. Setzt sie sich erst einmal in Gang, ist der Schaden nicht wiedergutzumachen. Die einfach nachzuahmenden Diskurse haben in den letzten Jahrzehnten die Geisteswissenschaften zerstört, auf beiden Seiten des Atlantiks, sie haben die große Literatur unter Palaversystemen erstickt, die vorhersagbarer sind als jedes Azorentief. Nie wieder Diskurs.
13. September, Ile Rousse, Korsika
Der Wind an der Nordwestküste der Insel wehte so heftig, daß die Maschine von Strasbourg in Calvi nicht landen konnte, sondern über Bastia umgeleitet werden mußte. Mit Hilfe von Laurent, dem freundlichen Hausbetreuer, waren wir gegen sechs Uhr abends in der Villa. Von Anfang an ist das Atmosphärenproblem eines so prachtvollen Anwesens zu spüren: es ist eine Spur zu groß, zudem zu stark durch den klassischen Geschmack des Bauherrn definiert, als daß die Besucher sich vom ersten Augenblick an zu Hause fühlen könnten. Nun gut, es ist die Aufgabe des Gasts, ein Haus zu beseelen, das ihm freundschaftlich überlassen wird. Nach 24 Stunden werden wir uns eingelebt haben. Dann wird unser Zeug im Flur herumliegen fast wie zu Hause, mit ein wenig Schlamperei fängt die Beseelung an. Am Ende desMonats, wer weiß, strahlt das Haus wie der Stall von Bethlehem nach der Abreise der Heiligen Familie.
Ein Reisender, der nicht von vornherein aufs Genießen der Eindrücke eingestellt ist (conduite esthétique), bringt überall seine Eigenrealität mit. Die ist fürs erste stärker als die schönen Landschaften, die kultivierten Räume, die südlichen Aromen. Er öffnet sein Gepäck, er fühlt sich selber wie ein bleierner Koffer, er brütet über eingeschleppten Verlegenheiten. Der warme Wind, die Berge und das Meer kommen gegen das Mitgebrachte nicht gleich an.
Nach der ersten Nacht wird die Gegenwart hervortreten, dann wird man die Blüten sehen, das silbergrüne Meer, die grauen Felsen.
Später am Abend erscheint eine magere Katze an der Terrassentür, die als Mit-Gast auf unserer Seite steht. Wir geben ihr, was übrig ist, gerührt von ihrem instinktsicheren frühen Besuch wie von dem Wiedersehen mit einer fernen Verwandten.
14. September, Ile Rousse
Eingeschleppte Verlegenheit: In vierzehn Tagen jährt sich zum sechsten Mal der Todestag von Siegfried Unseld. An diesem Tag soll in einem Saal der Universität Frankfurt zum dritten Mal der Unseld-Preis verliehen werden. Aus meiner pro-forma-Zusage für die Laudatio auf Bruno Latour – die damals den Ausschlag für die Zuerkennung an ihn gegeben hatte – ist eine de-facto-Verpflichtung geworden, Suhrkamp ließ den Fisch nicht mehr von der Angel. Nun ist klar, was bei der Ankunft für die Verstimmung sorgte: Stärker als der genius loci war der Gedanke an die übernommene Aufgabe, die diese Ferien ruinieren wird.
Bruno, von mir nach biographischen Angaben gefragt, ignoriert meine Bitte. Er schickt statt dessen ein leise komisches Bild, das seine Eltern bei der Hochzeitsreise im Jahr 1930 an einem der oberitalienischen Seen zeigt – was fast ein Bilderrätsel darstellt, wenn man in Betracht zieht, daß der Sohn erst 17 Jahre später geboren wurde. Das ist, als ob er mir sagen wollte: Wer das Phänomen Latour verstehen möchte, möge zuvor über die
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