Zeilen und Tage
weiter ad infinitum.«
19. September, Ile Rousse
Abends ein Treffen in Lumio mit Fabrice und Jonathan, bei dem von zwei vielleicht folgenreichen Vorhaben die Rede war: von einem größeren Kunstevent in Abu Dhabi im kommenden November und einem Aufenthalt in Indien, bei dem eine Reihe von Begegnungen mit indischen Intellektuellen und Künstlern stattfinden soll.
21. September, Wolfsburg
Europa – ein Altersheim. Das ist keine Drohung mehr, an den Flugplätzen ist es eine vollendete Tatsache.
Heft 101
21. September 2008 – 11. Februar 2009
21. September Wolfsburg
Bei den Vorbereitungen zur Quartett-Sendung über das Thema »Ist die Welt noch zu retten?« (wie wir nur diese Formulierung durchgehen lassen konnten?) mit Harald Welzer und Franz Josef Radermacher stoße ich auf einen Hinweis, wonach der Ausdruck »Weltinnenpolitik« von zwei Heidegger-Schülern stammt: Georg Picht verwendet ihn zuerst in dem Buch Bedingungen des Friedens , 1964, Carl Friedrich von Weizsäcker greift ihn auf, um eine allgemeine Theorie der Pazifizierung auf ihn zu gründen.
Philippe Bordas: »le grand art est celui du vent«: Der Dichter soll eine Brise werden, nur die Leichtigkeit zählt.
(Aus: Les forcenés , vom Leben der Velomanen)
28. September, Frankfurt
Nun kommt es also zu dem Festakt im Casino der Universität – im ehemaligen IG-Farben-Gebäude – anläßlich der Übergabe des Siegfried Unseld-Preises 2008 an Bruno Latour. Die Szene spielt vor einem Publikum, das auf den ersten Blick wie tout Francfort aussieht, doch auf den zweiten zeigt sich, daß viele fehlen, die zu einem Anlaß dieses Ranges zu erwarten gewesen wären. Die ungünstige Plazierung des Termins vor Semesterbeginn fällt dabei ins Gewicht, vor allem aber die Tatsache, daß der Preis von der breiten Öffentlichkeit noch gar nicht wahrgenommen wurde.
Vergleiche machen unglücklich, aber sie drängen sich auf: Wennich dagegenhalte, daß bei der Verleihung des »Cicero«-Preises im Juni im alten Bundestag von Bonn 650 Personen anwesend waren, beim Leipziger Mendelssohn-Preis im März fast 2000 begeisterte Besucher im vollbesetzten Gewandhaus, erscheint die Frankfurter Szene dürftig. Die Laudatio entrollte sich in voller Länge, wobei sich zeigte, daß sie für die Proportionen des Festakts viel zu pompös geraten war, wenn sie auch eine intensive Physiognomie des Laureatus lieferte und eine Vorstellung von den Gewichten gab, die in seinem Werk bewegt werden.
Auszug aus der Festrede: Ein Philosoph im Exil – oder: Der Mann, der die Wissenschaften liebt.
»Immerhin kam Bruno Latour meinem Wunsch nach Mithilfe bei der Besorgung biographischer Informationen auf eine andere Weise entgegen. Er fügte seiner Antwort ein Foto bei, auf dem man seine Eltern in ihren jüngeren Tagen sah, und zwar bei der zermürbenden Tätigkeit, die man die Hochzeitsreise nennt. Das Bild wurde, wie es in der begleitenden Information hieß, im Jahr 1930 aufgenommen. Die beiden eleganten jungen Menschen, die in die Kamera lächeln, lehnen sich an eine steinerne Balustrade vor der Silhouette einer Stadt an einem südlichen Gewässer. Wenn man weiß, daß die Szene in Bellagio spielt, dann weiß man auch, daß die Wasserfläche hinter ihnen der Comer See ist.
Zwei Dinge waren es, die mich an diesem Bild sofort frappierten. Es war zum einen die Jahreszahl, die mir fast unglaublich vorkam: Man fragt Bruno Latour im Spätsommer 2008 nach seinen Eltern und bekommt ein Bild zu sehen, das schon in illo tempore zu datieren ist, in die verlorene Zeit zwischen den Kriegen: Man geht nur eine Generation rückwärts und findet sich in der Welt von gestern wieder, zu der man in anderen Familien allein über einen zusätzlichen Generationenschritt zurückgelangt.
Zum anderen sprang mir die Kleidung dieser glänzendenjungen Leute ins Auge – Latour senior trägt einen eleganten Anzug mit Weste – über die Farbe erlaubt das Schwarz-Weiß-Foto keine Aussage, außer daß es keine Abendfarbe ist. Irgend etwas sagt mir, daß dieses Outfit nicht nur ein Zugeständnis an die Erfordernisse einer voyage de noce darstellt, sondern einen Habitus reflektiert, der tiefer in die Person eingedrungen war. Der gutaussehende junge Mann, der durch seine Hornbrille gesammelt und leise spöttisch in die Kamera schaut, hat bereits die Luft der Moderne geatmet, soweit sie sich bis in das nördliche Rhônetal zu verbreiten vermochte. Er steht vor dem Geländer am See neben seiner Braut mit jener Lässigkeit, für
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