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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Individuum ist ein Pixel im Erscheinungsbild des totalen Staats.
    Was Ines Geipel damals in der Sendung über das progressive Doping sagte, scheint sich bewahrheitet zu haben. Kaum ein Sportler wurde in Peking positiv getestet, obwohl kein kompetenter Beobachter den geringsten Zweifel daran hatte, daß dies die größte Drogenshow war, seit der erste Mutterkornesser einen Stein schleuderte. Nirgendwo wird das Gebot, sich nicht erwischen zu lassen, so streng befolgt wie in China. Noch ein paar Neuauflagen der Spiele, dann wird die Nationenwertung durch die Laborwertung ergänzt.
29. August, Karlsruhe
    Balzac schreibt in Die Waffenbrüder , es gebe im Weibe etwas, das man noch weiblicher nennen könnte als das Weib selbst. Was sollte das sein, wenn nicht das sinnlich Böse, als Volatilität verstanden?
    Gott ist größer – sportiv gelesen: Die positive Tradition verlangt, Gott größer zu denken als jedes konkrete Seiende. Das ist das tägliche Brot der Frömmigkeit. Dann kommt die mystische Theologie und fordert uns auf, ihn negativer zu denken, als die einfache Religion es vermag, und insofern größer. Der Atheismus geht einen Schritt weiter, indem er ihn als das Größte überhaupt denkt, um ihn dann in aller Größe zu negieren – jetzt ist es die Freiheit von jeder Vorstellung und Nicht-Vorstellung von »Gott«, die größer ist.
    Solche Spiele kann man endlos treiben. In interessierten Kreisen wiederholt man sie seit Jahrhunderten – nicht weil sie ergebnislos wären, im Gegenteil. Beide Lager, Theisten wie Atheisten, verdanken ihre mentale Kondition, ihren Überzeugungstonus, ihre Ritualfitness, von den Naiven als »Glauben« bezeichnet, dem Umstand, daß sie mehrmals in der Woche, eventuell täglich, an den Übungsgeräten »Gott« bzw. »Nicht-Gott« trainieren.
    Finde bei Kampitz den Hinweis, Sartre habe Trotzkis Idee der permanenten Revolution für sich selbst in die Forderung nach permanenter Konversion übersetzt. Das Wort »permanent« gehört in die Trainingstheorie. Es impliziert die Mahnung: Bloß weil du dich vorzeiten einmal revolutionär aufgeführt hast, bist du heute noch lange nicht in Form. Wenn Dasein In-Form-Sein bedeutet, hängt alles an den ständigen Wiederholungen. Die Welt gehört den Durchtrainierten.
    Rene hat die Chemotherapie seit einigen Wochen überstanden, kahl wie ein Fötus, öfter deprimiert, doch gelegentlich, wenn wiram Telefon plaudern, schon wieder munter wie ein sechs Wochen alter Hund. Nun planen wir gemeinsame Tage in Korsika.
30. August, Karlsruhe
    Mit einem vorsichtigen Sprung ins letzte Kapitel eingetaucht. Der Countdown läuft. Das Bild scheint passend, da mit diesem Buch eine Rakete an die Rampe gefahren wird, die bald abheben kann. Ihrem Feuerstrahl beim Start werden die besseren Leser einige Zeit hinterhersehen. Das Buch sollte das Reden über Ethik verändern, sobald es seine Satelliten ausgesetzt hat. Die werden die Erde umkreisen, manche so hell, daß man sie bei Tag über den Himmel ziehen sieht. Der Satellit »Übung«, der Satellit »Vertikalspannung«, der Satellit »Immunität«.
3. September, Karlsruhe
    Von Suhrkamp die 10. Auflage von Regeln für den Menschenpark . Unterschreibe den Protestbrief gegen die Verhaftung von Tierschützern in Österreich. Eine größere Spende an einen Menschenrechtsverein in Aachen, der Todesurteile gegen Kinder und Jugendliche im Iran bekämpft.
    Evolution über Nacht. Als Affe zu Bett gehen, als Mensch aufwachen.
    Richard Rorty zitiert eine Definition von kritischer Theorie: »to clothe resentment in jargon« – Rachebedürfnisse in hochgestochene Reden kleiden. ( Achieving Our Country , S. 127). Die Formulierung stammt von Allan Bloom, dem suspekten Dandy-Altphilologen, der sich gern in Gesellschaft hübscher Milliardärssöhne sehen ließ. Rorty würde sie nicht wiedergeben, hielte er sie nicht für treffend. Er hütet sich davor, zu sagen, von welcheneuropäischen Autoren der Gegenwart seine jungen amerikanischen Kollegen diese Kunst gelernt haben.
7. September, Karlsruhe
    Die Sorgen brechen in die Wohnung ein und reißen die Schubladen auf.
    Abends eine der vielen Polit-Talkshows im Fernsehen mit Lafontaine & Co. Mir geht die Vorstellung durch den Kopf: Vampire, denen man mit Kruzifix und Knoblauch nicht mehr beikommt. Diese saugstarken Agenten des Vakuums, Delegierte von Millionen Mängeln, klemmen sich einen Besen zwischen die Beine und galoppieren durch die Wolken, bis sie beim Konsensus ankommen.
    Immer noch

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