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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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lernt man durch das Schauspiel der psychoanalytisch-juristischen Vaterpietät-als-ob (später Kronzeuge: Pierre Legendre) mehr als durch alle anderen intellektuellen Fabrikationen, ob sie aus Kalifornien kamen oder aus Nanterre oder aus Frankfurt.
22. Juli, Karlsruhe
    Die ersten neuen Seiten zum abschließenden Kapitel von Du mußt dein Leben ändern stehen auf dem Bildschirm. Der Autor ist zurückgekehrt.
23. Juli, Karlsruhe
    Ob man die Pointe an der Verhaftung von Karadzic erfaßt hat: daß sich der seit Jahren gesuchte Massenmörder so lange in der »Identität« eines Heilpraktikers verbergen konnte? Ein großer Tag für die Gerechtigkeit, so steht es in allen Zeitungen, man vergißt hinzuzufügen, ein schlechter Tag für die alternative Medizin!
24. Juli, Karlsruhe
    Summer in the city. Im Fernsehen Barack Obamas große Rede an der Siegessäule in Berlin – eine Etüde in biblischer Erfüllungsrhetorik über der Figur: This is the moment, oder: die Zeit ist reif.
    Mir bleiben hier ein paar Sonnen- und Arbeitstage, an denen der Autor und der Velomane gleichzeitig ihr Glück versuchen.
26. Juli, Karlsruhe
    Nach archäologischen Befunden entstanden vor 100 000 Jahren die ersten Grabwerkzeuge, einfache Hakenstöcke. Für die letzten 200 Jahre sind 750 Varianten von Schaufeln nachgewiesen.
6. August, Leutschach, Südsteiermark
    Arte zeigt aus Anlaß von Solschenizyns Tod ältere Filme über seinen Kampf mit dem sowjetischen Moloch. Ich hatte ihn immer bloß als moralisierenden Propheten wahrgenommen, der an überholten Erzählweisen festhält. Wer hätte einen Puschkinianer in ihm vermutet?
    Die alten Aufnahmen machen deutlich: Solschenizyn will nie »sympathisch« sein. Er verzichtet auf jeden Charme, er kennt kein Entgegenkommen. Das verhindern sein Ernst und seine bis in die Oberfläche durchschlagende »Religiosität«. Er kann sich nicht vorstellen, daß im Charme auch eine Wahrheit läge. Wenn man ihn sieht, kann man sich ein gutes Bild davon machen, wie der alte Tolstoj auftrat, ein vormals großer Künstler, in einen doktrinären Griesgram verwandelt, ständig mit der Verkündigung irgendwelcher Eseleien beschäftigt. Solschenizyn steht natürlich in der russischen Romantradition, wo man seine sogenannten Gefühle vor anderen ausbreitet wie suspekt riechende Fische auf dem Wochenmarkt. Er ignoriert die Empfehlung, daß man diskret religiös sein sollte, so wie man eine Lebensversicherung in der Stille abschließt. Ein Mensch, der jeden Tag über seine Versicherungen redet, würde abstoßend wirken.
    Aber vielleicht sind solche Einwände angesichts dessen, was Solschenizyn erlebt hat, hinfällig. Er war dabei, als die russische Seele die Umsiedlung aus Dostojewskijs Kellerloch in Stalins Höllenkreise mitmachte. Dabei bildete sie sich ein, durch Beihilfe zur Teufelei das Heil zu erlangen. Wer von einer solchen Verirrung Zeugnis ablegt, braucht auf Kriterien eines Unterhaltungspublikums keine Rücksicht zu nehmen.
7. August, Leutschach
    Das Kapitel über die Exerzitien der Modernen nimmt jetzt schnell Konturen an. Der zweite Abschnitt scheint nach den langen Vorarbeiten nicht schwer zu bewältigen, der dritte bringt nur noch Folgerungen auf dem fallenden Hang. Meine Arbeit als Schreibkraft des nichtidentifizierten Autors ist bald erledigt.
    Du mußt dein Leben ändern wird unweigerlich zu einem Buch für die Katakomben. Man würde als seinen Verfasser jeden anderen vermuten, nur nicht den unfrisierbaren Oger, den man gelegentlich in nächtlichen Fernsehsendungen gesehen hat, wo eröfter gequält wirkt, zuweilen humorvoll. Ich knüpfe auf meine Art an dem Petrarca-Paradoxon an: ein Refugium in der Vaucluse, die Lorbeeren in Rom.
18. August, Leutschach
    Irgendein Businesstyp sagt: Es liegt in der DNA von London, die Finanzmetropole der Welt zu sein – warum? Weil sie es vor 100 Jahren schon einmal war. Genausogut könnte man behaupten, es liege in der DNA von Franzosen und Deutschen, keinen gleichstarken Finanzplatz auf dem Kontinent zustande zu bringen.
24. August, Karlsruhe
    Habe von den Olympischen Spielen so gut wie gar nichts mitbekommen, ohne etwas zu vermissen. Per Zufall sah ich im Fernsehen die virtuos ausgeführten Menschenpyramiden bei der Schlußfeier im Pekinger Stadion. Bezeichnende Bilder. Sie führen die Massenornamentik weiter, mit denen die totalitären Regime seit 1936 ihre Idee von der Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft manifestieren. Kracauers Ornament der Masse blüht noch immer: Das

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