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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Nehmen wir an, der junge Mann sei sechzehn, siebzehn Jahre alt – das ist das Alter, in dem sich die erwachende Intelligenz am meisten vor den Redensarten ekelt und am heftigsten Abstand nimmt von allem, was bloße Konvention und verklebte Üblichkeit ist.
    Darum kommt es vor, daß er sich an manchen Abenden in Gesellschaft seltsam benimmt: Als einmal ein Besucher aus Paris im Hause Latour bei Tisch den biederen Römerspruch zitiert: in vino veritas , springt der junge Mann wütend auf und verläßt den Speisesaal, indem er die Tür hinter sich laut zuschlägt. Marx hat er noch nicht gelesen, aber was Produktionsverhältnisse sind, weiß er schon sehr genau. Er kann die Phrasen von Positivisten nicht mehr ertragen, die Resultate von komplizierten Verfahren wie Naturobjekte nehmen – er weiß also, es müßte heißen: in vinificatione veritas , doch soviel kann man von Parisern, von Angebern, von Etikettenfetischisten nicht verlangen. Nehmen wir weiter an, der junge Mann liebe es, Ausflüge zu machen und sich gelegentlich im Schatten patinierter Mauern niederzulassen.
    Nehmen wir zusätzlich an, ein solcher Ausflug führe ihn zu der kleinen romanischen Kirche von Montcombroux, die um das Jahr 1000 errichtet wurde, einen Ort, den er auch in seinen Mannesjahren noch frequentieren wird. Er hat sich vor der Außenmauer des Gebäudes auf eine Steinbank gesetzt und denkt nach – er denkt nach auf eine Weise, wie es nur den jungen Hochbegabten widerfährt, in deren Selbstgespräch noch über den allgemeinsten und scheinbar klarsten Sätzen ein hoher Himmel von ungesagten Dingen steht, die auf Artikulation drängen.
    Was nun folgen soll, stellt an die Kunst des Romanciers nicht ganz alltägliche Anforderungen. Er müßte zeigen, wie der junge Mann eine Art von Erleuchtung erlebt, deren Nachklang seine weitere Existenz begleitet. Die Szene wäre literarisch anspruchsvoll, weil sie genau der von Sartre in seinem Roman La nausée geschilderten Erleuchtung seines Helden Roquentin im öffentlichen Park einer nordfranzösischen Provinzstadt entsprechen müßte – mit dem wesentlichen Unterschied, daß hier nicht eine Kastanienbaumwurzel im Zentrum der Vision stünde, sondern ein Stück Holz von einem alten Rebstock, das am Boden liegt und zufällig ins Blickfeld unseres Helden fällt.
    Das Kunststück bestünde darin, Sartre im innersten Kreis seiner Stärke zu widersprechen. Bekanntlich erlebt Roquentin beim Anblick der Kastanienbaumwurzel eine Art von ontologischer Illumination – er spürt, wie sich die Materialität des Baums in den Vordergrund spielt, um den Betrachter mit dem Andrang der puren Existenz zu überschwemmen. Was sich für Sartres Held in der aufsässigen Präsenz der Baumwurzel enthüllt, ist das nackte Daß der Existenz. Von diesem Daß meint Roquentin unmittelbar zu erleben, daß es ein pures Zuviel ist – eine schwere und abscheuliche Zugabe zur schwebenden unverwirklichten Idee. Das wirkliche Vorhandensein der realen Sache stürzt auf den Betrachter ein wie ein prahlerischer, durch nichts zu rechtfertigender Überschuß, es bildet eine Überwältigung, die der Reinheit des Nichts die Besudelung durch die Existenz hinzufügt. Die Besudelung ergibt sich nicht zuletzt dadurch, daß dieses Zuviel, diese Schwere, diese Geilheit des gärenden Daseins sich auf beide Seiten verteilt, den Baum wie seinen Beobachter. Die Reaktion auf diese Enthüllung kann nur der Ekel sein, sofern dieser das Sich-Aufbäumen der Freiheit gegen das obszöne Eingetauchtsein in die unableitbare Faktizität zum Ausdruck bringt. ›Es erdrückt mich‹, sagt Roquentin, ›überall dringt die Existenz in mich ein, durch die Augen die Nase, den Mund.‹ Ihm wird klar, ›daß es zwischen der Nicht-Existenz und dieser lustvollen Üppigkeit keinen Mittelweg gab. Wenn man existierte, so mußte man bis dahin existieren, bis zum Verschimmeln, bis zum Aufgeschwemmtsein, bis zur Schamlosigkeit.‹
    Nun stelle ich mir vor, in dem burgundischen Roman wäre das präzise Gegenteil der Sartreschen Erleuchtung zu beschwören. Der Junge soll auf die Rebstockwurzel schauen und eine Lektion von völlig anderer Tendenz erfahren. Was sich ihm zeigt, ist nicht das nackte Daß dieser Wurzel da, scholastisch gesprochen ihre Quodditas. Was ihn ergreift, ist das Wunder ihrer Aktualität, die man in einer anderen Terminologie ihre Konkretheit nennen würde. Diese Aktualität ist völlig unabhängig von der Tatsache, daß ein Stück totes Rebstockholz, dürr

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