Zeilen und Tage
sollte. Seine Forderungen an die Ontologie sind unmißverständlich: Er will sich vom Substanzschein verführen lassen, bei Personen wie bei Dingen. Allzu gerne möchte er glauben, es werde alles, was es jetzt gibt, für alle Zeit geben. Wenn die Dinge in Scherben fallen und die Leute abwandern, sei es in Gräber oder nach Australien, sucht er sich andere Objekte, an denen er seine Erwartungen an die unzerstörbare Stabilität der Mitwelt festmachen kann. Das ist fürs erste nicht schwer. Es gibt fast zu jedem Zeitpunkt Dinge, die scheinbar fest und dauernd vor uns stehen, und Leute ringsum, von denen man denken darf, sie seien wie für immer da. Mehr braucht es nicht, um sich bei ihnen niederzulassen, als ob sie keine andere Aufgabe hätten, als uns in jedem Moment die Vollständigkeit des Lebens vorzuführen.
Richard Wagner hat mit seinem Neufundländer Russ in Bayreuth durchexerziert, wie sich der Herr mit der Vergänglichkeit seines anhänglichsten Hundes abfindet: Stirbt dieses Tier, legt er sich ein neues zu, und wenn auch das stirbt, wieder eins von derselben Rasse. Der Herr hat immer denselben Hund.
Wir sind nicht gemacht, die Furie des Verschwindens am Werk zu sehen.
Warum wir am Glauben an die Nachwelt zunehmend irre werden. Immer weniger sind wir fähig, die Illusion aufrechtzuerhalten, die Nachwelt werde imstande sein, das wahre Urteil über uns zu sprechen. Wir verlieren diese Illusion, weil wir zu gut wissen, was eine Nachwelt leistet: Wir selber sind ja Nachwelt zu so viel Vorwelt, und wir sehen, daß es um unsere Fähigkeit und Willigkeit, dem vor uns Geleisteten und Erreichten gerecht zu werden, lausig steht. Wenn wir schon so unfähig sind, um wie viel unfähiger werden die sein, die auf uns folgen. Die Konsequenz ist klar: Wir müssen, so gut es geht, die Nachwelt in der Mitwelt suchen.
13. Oktober, Wien
Alle abgehackten Köpfe sind gleich. One man, one vote. Philip Manow schreibt: »Die Guillotine ist ein Instrument politischer Eugenik …« ( Im Schatten des Königs , S. 105)
Arras geht in seiner Geschichte der Guillotine so weit, den Korb, in den die Köpfe fallen, und die Wahlurne zu assoziieren: »Der Korb … ist gewissermaßen die Urne, in der – ex negativo – die Stimmen für den Gemeinwillen gesammelt werden.« (Arras, S. 108f.)
Glenn Gould: »Meine Zelle sollte grau gestrichen werden.«
15. Oktober, Karlsruhe
Die Hochschule ist in großer Le jour de gloire est arrivé-Stimmung: Bundespräsident Horst Köhler hat heute an der Semester-Eröffnungsfeier der HfG teilgenommen und dort seine Karlsruher Erklärung zur Bildungspolitik vorgetragen. Natürlich ist das politische Karlsruhe beim Rundgang durch unser Haus vollzählig dabei, der Oberbürgermeister an der Spitze der Abordnung. Die Fotografen schwirren herum, um bei dem Ereignis mitzuverdienen, die Video-Vampire halten ihre Kameras hoch.
Im großen Bühnenstudio diskutiert der Präsident im Anschluß an den Rundgang mit einigen Auserwählten auf unserer Seite und fleißig mitschreibenden Mitarbeitern aus seinem Stab über das Thema »politische Symbolik«, das er sich für das Privatissimum mit Experten gewünscht hatte.
18. Oktober 2008, Wolfsburg
Die Spekulation frißt ihre Kinder.
Auf allen Kanälen volkspsychologisches Gefasel über die Gier, die vorgeblich die Welt regiert und an der Krise schuld ist.
Kein Mensch will begreifen, daß nicht die Gier an der Macht ist, sondern der Fehler – die von Grund auf falsche Geldpolitik der Zentralbanken.
23. Oktober 2008, Wien
Lese bei der Biologin Florianne Koechlin, Pflanzenwurzeln besäßen bereits die Fähigkeit, zwischen Selbst und Nicht-Selbst zu unterscheiden und dadurch die Funktionen eines Immunsystems auszuüben. Auch Pflanzen wären demnach mittels eines sehr weit gefaßten Aktivitätsbegriffs als Agenten zu beschreiben,denn auch sie kommunizieren schon mit Artgenossen über Angreifer und geeignete Abwehrmaßnahmen. Sie können Gehirne entbehren, weil sie – hierin den Quallen vergleichbar – über einen »diffusen Kommandobereich« verfügen; selbst epigenetische Vererbung (»lernen«) ist bei ihnen nachgewiesen worden. Es führt kein Weg daran vorbei, man muß ein Konzept von Pflanzenwürde statuieren.
Plessner schreibt 1924: »Von Überwölbungen ist nichts zu erwarten, außer daß sie einstürzen.« Die modernen Dome sind Phrasengebäude, die neuen Imperien sind Ideologien mit Garnisonen.
24. Oktober 2008, Sevilla
Für ein paar Tage mit der Familie in der
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