Zeilen und Tage
und ausgezehrt, wie es zufällig vor der Mauer der Kirche liegt, den vitalen Wettbewerb mit der triumphalischen Fettleibigkeit der Kastanienwurzel von vorneherein verloren hätte. Was der Junge sieht, ist vielmehr die Unglaublichkeit des Sieges über die Unwahrscheinlichkeit, den das Aktuelle errungen hat, indem es dieses scheinbar beliebige Stück Holz in die Gegenwart stellte. Was er sieht, ist die Zusammenkunft der Bedingungen, die das Ding zu dem machen, was es ist. Das sind nicht bloß die Bedingungen der Möglichkeit, von denen die Philosophen reden, auch nicht die Bedingungen der Wirklichkeit, die Historikern zu denken geben, sondern die Bedingungen der Aktualität – die Bedingungen des Erfolges, die dieses Ding in seinem Streben nach dem Hier-und-Jetzt-Sein tragen.Später wird Latour dies die Bedingungen der Wohlgeratenheit nennen – conditions of felicity. Er erkennt in der trockenen Wurzel vor seinen Augen die Spitze einer ontologischen Erfolgsreihe. Er meint etwas zu sehen, was nicht weniger ist als eine Versammlung, die Zusammenkunft der zahllosen Partikel zu dieser Form, und in eins damit: die Wiederholung einer milliardenfach erprobten Form in dieser aktuellen Variation. Was ihn mit einer unwiderstehlichen Evidenz durchdringt, ist also nicht eine homogene Masse ohne Eigenschaften, es ist nicht der farblose und klebrige Teig der Existenz, die den Essenzen vorhergeht. Es ist die ungeheure Maschinerie der Wiederholungen, die all die zahllosen Qualitäten trägt und von der in diesem Augenblick ein einzelnes Werkstück, eine Wurzel, ein bedeutungsloses Stück Holz, so ausgezehrt wie wunderträchtig, eine Kostprobe bietet. Daher hat diese Offenbarung nicht wie bei Sartre die Klangfarbe der Obszönität, sie impliziert nicht die Herablassung zu der Gemeinheit, in der das Zuviel sich austobt, gleich, ob es in vor Dasein platzenden Kastanienbäumen oder in trägen Menschenkörpern erscheint. Die alternative Offenbarung legt in dem einzelnen Ding die Serie offen, zu der es gehört, sie macht den generativen Strom fühlbar, der in die ältesten Voraussetzungen der Entstehungen zurückverweist. Zwar setzt sie wie bei Sartre den Bruch der Dämme voraus, die das Subjekt von den Objekten trennen, aber anders als beim Denker des Ekels läßt sie die Existenz nicht wie eine eigenschaftslose und widerwärtige Lava erscheinen, die durch den Beobachter wie das Beobachtete strömt. Sie eröffnet vielmehr den Zugang zu einer ontologischen Solidarität, die jedes Ding als eine Versammlung erscheinen läßt und jeden Beobachter als einen versammelten Sammler von Versammlungen.
Kurzum, unser Romancier hätte keine ganz leichte Aufgabe zu bewältigen. Im übrigen müßte er zugleich die Rolle eines Moralisten übernehmen, der, ohne den Zeigefinger zu heben, durch die Art der Darstellung, zu verstehen gibt, daß SartresModus, von Kastanienbäumen zu reden, biologisch suspekt und philosophisch verwerflich ist – immerhin verdankt man der berühmten Szene die Einsicht, daß manche Philosophen fähig sind, nicht nur Bäume zu vergewaltigen, sondern sogar eine Neigung mitbringen, sich von Bäumen vergewaltigen zu lassen.«
1.Oktober, Karlsruhe
Nichts ist a priori falsch daran, daß sich ein Individuum als Medium für die Botschaften verhüllter Absender begreift. Der subjektive Kanal sollte aber nicht bloß für Anrufe von oben offenstehen, sondern auch für Zurufe von der Seite. Schlimm ist der Autismus der Propheten, die über ihrer Mission die Koordination mit der Umwelt aus dem Auge verlieren. Das ergibt den Anblick des dummen bewegten Predigers inmitten von kultivierten Leuten, die ihm mehr zu sagen hätten als er ihnen. Neben der Vertikalmission ist immer auf die Lateralmission zu achten.
2. Oktober, Karlsruhe
Konzipiere für die Wiener Vorlesung eine Reihe von Abenden unter dem Titel »Bios und Pathos«, in der von Autoren wie Montaigne, Adam Bernd, Rousseau, Nietzsche, Sartre, Kafka und Leiris die Rede sein wird – allesamt Zeugen, um zu erklären, wieso Biographie und Pathographie konvergieren.
3. Oktober, Karlsruhe
Aus Anlaß des Staatsfeiertags, an den man sich so schwer gewöhnt, läuft abends in der ARD der Film Das Leben der Anderen , der beim Wiedersehen auf dem Bildschirm schwächer wirktals bei der ersten Begegnung im Kino, ausgenommen die sublime Martina Gedeck, deren Präsenz dem überkonstruierten DDR-Märchen eine höhere Dimension verleiht.
Auf die Frage, welche ihre bevorzugten Künstler von heute
Weitere Kostenlose Bücher