Zeilen und Tage
seien, antwortet Daria Jukowa, die junge Muse des Oligarchen Abramowitsch: »Wissen Sie, ich habe kein gutes Namensgedächtnis…« Eine perfektere Replik hätte die Dame, die soeben in Moskau die Edelgalerie »Garage« eröffnet hat, unmöglich geben können. Die Kunstwelt liebt Statements, die offenlassen, was offen bleiben soll.
Als Kind, sagt Daria, wollte sie immer »Kosmonautin« werden. Es könnte scheinen, sie sei eine Schicksalsgefährtin des sowjetischen Weltraumhelden Sergei Krikalew, der sich in den kritischen Tagen, als die Sowjetunion zusammenbrach, in der Weltraumstation Mir aufhielt. Noch in der alten SU gestartet, landete er auf dem Boden des neuen Rußland. Seine junge Kollegin war in ihren Mädchenträumen ins sowjetische All gestartet, um als erwachsene Frau in der russischen »Garage« zu landen. Andrei Ujica müßte sein Weltraum-Epos Out of the Present ein zweites Mal drehen – diesmal mit Daria in der Hauptrolle. Die wirkliche Raumfahrt spielt sich jetzt in der Sphäre ab, zu der die Schwerelosigkeit des großen Geldes Zugang gewährt.
Inzwischen, so deutet die französische Presse an, gibt Daria sich Mühe, die Rolle der ernsthaften jüdischen Tochter in ihr Erscheinungsbild zu integrieren.
Schon bald nach ihrer Begegnung mit Boris Groys muß sie begriffen haben, daß es klüger ist, die Kunst nach Hause kommen zu lassen, als sich selber zu ihr auf den Weg zu machen.
6. Oktober, Wien
Eine jüngere Umfrage führt zu dem Ergebnis, nur 13% der ehemaligen DDR-Bürger seien mit ihrem Leben nach der Vereinigung mit dem Westen zufrieden – aus dieser Zahl wird der springende Punkt des vormaligen Daseins im »realen Sozialismus« deutlich. Sein psychopolitisches Geheimnis bestand darin, seine Zöglinge vor der Versuchung zu schützen, ihr Leben mit dem Leben der anderen zu vergleichen. Das gelang ihm, indem er alle mehr oder weniger gleichmäßig unglücklich machte. Ähnliches hatte Ilya Kabakov für die Sowjetunion konstatiert: Das Volk erlebte das Regime wie einen endlosen Schneesturm, der den Genossen das süße Gefühl bescherte, im selben unerklärlichen Elend zu vegetieren. Überhaupt: Was wir im älteren Sinn das Volk nannten, was war das anderes als das Kollektiv der ungefähr gleich Unglücklichen?
Seit sich das Blatt gewendet hat, verdienen die ehemaligen »Ostdeutschen« im Durchschnitt das Drei- oder Vierfache ihrer früheren Einkommen. Aber es hilft nichts. Sie haben ihre Schutzhülle verloren: Sie vergleichen sich jetzt, und halten die Wirkungen des Vergleichs nicht aus.
8. Oktober, Wien
Beginne in der Vorlesung über »Bios und Pathos« mit einer Ausführung über die ersten Sätze von Ernst Blochs Tübinger Einleitung in die Philosophie : »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« Aus dem triadischen Motiv läßt sich ein ursprünglicher Expansionismus entwickeln: Die Arbeit der Selbsterfassung beginnt mit der Störung eines anfänglichen leeren Glücks, das zu leer ist, um ein wirkliches Glück zu sein.
Irreführend ist es, die frühen homöostatischen Zustände des Fötus und des Säuglings narzißtisch zu nennen. Das frühe »Subjekt« ist kein Narziß, der sich selbst als einen vermeintlich Anderen umarmen möchte. Das Ich vor dem Ich ist eine Empfindlichkeit, die sich selbst gelegentlich auffällig wird. Selbstauffälligkeit ist der Zustand, der das spürende Verhalten nach »innen« lenkt.Solange das aktuell sich selbst spürende Sich-Auffallen ein Sich-Gefallen ist, oder wenigstens ein Mit-sich-Zurechtkommen, scheint alles gut – mag auch die Selbstgefälligkeit keine vorteilhafte Presse haben. Geht die Auffälligkeit weiter bis zum Sich-selbst-anstößig-Werden, wird die Lage kritisch. Spitzt sie sich zu bis zum Sich-selber-nicht-Ertragen, tritt der Ernstfall des Subjektseins ein: Dann ist mein Zustand mir so anstößig, daß ich nicht anders kann, als mir selber aus dem Weg zu gehen.
Es könnte sein, daß ein gut Teil der Kommunikationen zwischen Menschen nichts anders ist als der Verkehr zwischen Leuten, die sich selber meiden, wobei sie unweigerlich auf andere Sich-Ausweichende treffen. Das ergibt Flüchtlingsgespräche ohne Ende, denn Selbstausweicher haben einander viel zu sagen.
12. Oktober, Wien
Man kann es dem alltäglichen Verstand so oft erklären, wie man will, er wird sich mit der Zerbrechlichkeit der Lebensverhältnisse nie abfinden. Der gewöhnliche Geist hat seine eigenen Vorstellungen von dem, was ein solides Sein bedeuten
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