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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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    Tatsächlich läßt die amerikanische Wahl Größeres hoffen, denn dieser Mann, über dem die Sterne blinken, bringt etwas mit, was ihn zu einer historischen Figur machen könnte. Er scheint dazu prädestiniert, nicht nur ein alter Trottel auf einem Dollarschein zu werden, wenn seine Zeit vorüber ist, sondern eine Gestalt der neueren Geschichte in der Nachbarschaft von Roosevelt, Churchill oder de Gaulle.
8. November, Wien
    »›Blute, rausche, dulde‹, sagte er vor sich hin« ( Gehirne, 1916).
    In Frankreich bringt der Amoralismus einen eigenen Kitsch hervor, die Provokation betreibt eine kleine Industrie, die Bitterkeit eine hohe Küche.
    Lese leicht amüsiert ein Pamphlet aus der Feder eines Autors namens Frédéric Schiffer gegen die opportunistischen neostoischen Diskurse der »Selbstverwirklichung«, wie eine Reihe von Philosophie-Journalisten in Anschluß an den späten Foucault sie popularisiert haben. Man muß fürchten, der Autor, der sich zu Recht auf Skepsis, fröhliche Wissenschaft und kraftvolles Abseitsstehen beruft, verkrampft sich selbst zuletzt in einer allzu stolzen Pose. Was hilft’s, sich bewußt am Rand der Szene aufzuhalten, wenn eine Rechthaberei im Tragischen die Folge ist?
    Während des taktlos überdimensionierten Staatsbegräbnisses für den vormaligen Wiener Oberbürgermeister Helmut Zilk, das den ganzen Tag dauert, setzt sich nachmittags gegen vier Uhr die große Glocke im Glockenturm des Stephansdoms, die mythische Pummerin, für zehn Minuten in Aktion – wir sehen sie vom Flurfenster aus in ihrem Gestühl schwingen, die Bässe dröhnen, die Obertöne kreisen um den Domplatz, die Zeit steht still.
    Im Fernsehen wird ausführlich die Leichenkutsche gezeigt, von der es heißt, sie sei den ganzen Tag zuvor auf Hochglanz geputzt worden. Man habe, sagt der Kommentator, ausschließlich Pferde eingespannt, die »bereits Begräbniserfahrung« haben.
8. November, Wien
    Die stille Sensation des Jahres 1938: Damals publiziert der junge Indologe Paul Thieme seine Studie Der Fremdling im RigVeda . Darin weist er nach, daß das Wort »arya« – bei den NS-Ideologen zum xenophoben Arier mutiert – zunächst so viel bedeutet wie »der Fremde«, indes es zugleich den Sinn von »fremdlingsbeschützend«, »fremdenfreundlich« annimmt. Herr ist der arya nur in dem Sinn, daß er »der gastliche Herr« ist, der Eigentümer eines für Leute von weit her offenen Hauses. Das zeigt, wie untrennbar schon im alten Indischen die Idee der gehobenen Existenz von der Vision eines integrierenden Ethos war. Der Vornehme ist der Offene, der dem Anderen Raum gibt.
    Mit diesem Essay warf Thieme eine logische Handgranate ins Hauptquartier der Schwachköpfe, die damals die »geistige Führung« im Land ausübten. Sie explodierte, wie so manche Anti-Hitler-Bombe, im falschen Moment, als die Betroffenen nicht im Raum waren. Wie hätten sie auch dorthin kommen sollen? Niemand konnte damit rechnen, daß der radikalste Beitrag zur intellektuellen Widerlegung des Nationalsozialismus in den Leipziger Abhandlungen zur Kunde des Morgenlandes erscheinen sollte.
    Später führte Thieme den Nachweis, daß manche indische Götter wie Mitra und Aryaman keine personifizierten Naturkräfte sind, sondern ethische Begriffe in personaler Einkleidung. Die Aufklärung kommt im Namen der Götter. Bemerkenswert scheint sein später Essay Kranich und Reiher im Sanskrit , 1973, worin die Opposition vegetarisch/nicht-vegetarisch entwickelt wird. Ein Wunder an gelehrter Sprachbegabung, begeisterte Thieme die indischen Kollegen, als er bei diversen Gelegenheiten, etwa bei der Verleihung des Ehrendoktortitels der Hindu-Universität von Benares, seine Ansprachen in freier Rede auf Sanskrit hielt.
11. November, Wien
    Bereite den Vortrag für Abu Dhabi vor, der den Titel Arabosphären tragen wird – Versuch über Welterzeugung vor dem Hintergrund von Raumschöpfungen in der ariden Zone.
    Es gibt ein Rad der Weisheit, wie es ein Rad der Fortuna gibt. Auf ihm reist der Geist durch die Grundstellungen: hohes Verstehen – trübes Verstehen – trübes Nichtverstehen – tiefes Nichtverstehen.
    Der Blick in den Spiegel sagt dem Betrachter, unabhängig von Aufmachung und Tageszeit: Es mußte wohl jemanden geben, der so aussieht.
    Anstelle der mißratenen Narzißmustheorie wäre eine Begriffsreihe zu entwickeln, in der die durchlöcherte Landschaft der affektiven Selbstverhältnisse besser abgebildet werden kann als in der Sprache der

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