Zeilen und Tage
späteren Wiener Psychoanalyse. Darin würden Termini wie Selbstzufälligkeit, Selbstauffälligkeit, Selbstgefälligkeit, Selbstabfälligkeit eine Rolle spielen – ebenso: am dunkleren Pol: Selbstvermeidung, Selbstlästigkeit, Selbstverwerfung, am helleren: Selbsterwartung, Selbstentwurf, Selbstanhänglichkeit, Autotoleranz. Narziß ist bei alledem kaum zu sehen. Nurin Grenzfällen taucht ein Individuum auf, das sich an seinem Selbstbild närrisch liebend festklammert. Das normale Subjekt hängt bestenfalls mit einer grauen Zuneigung voller Skepsis an sich selber.
Auch an der amour-propre-Psychologie der französischen Moralisten wäre wieder anzuknüpfen: Diese interessierten sich mehr für die Akteure der höfischen Gesellschaft als für die Nervösen in der Vorstadt. Was hätte Freud nicht alles herausfinden können, hätte er mehr Umgang gepflegt mit den Schönbrunner Menschen seiner Zeit als mit den eingezwängten Bewohnern der bürgerlichen Bezirke von Wien?
Tatsächlich war die neuere nicht-philosophische Psychologie anfangs als Moralistik auf den Markt gekommen. Sie bot ihre Dienste als strategische Konsultation für Hofleute und großbürgerliche Individuen an, ehe sie im Zuge der allgemeinen Medikalisierung um die therapeutische Ecke bog. Für sie war das Unbewußte eine überflüssige Hypothese, da es aus ihrer Sicht genügte, die verborgenen Gedanken der Akteure lesbar zu machen, wollte man in der Welt der Psyche klug navigieren. Was hier zählte, war die Einsicht in strategische Verstellungen und geheime Absichten rivalisierender Personen – man brauchte die psychologische Beratung ja weniger in eigener Sache, als um die Anderen berechenbar zu machen. Erst im Zeichen der voranschreitenden Medikalisierung wird das eigene Unbewußte dem fremden Verborgenen vorgezogen.
Fast ist es schade, daß die berüchtigte Brüsseler Gurkenkrümmungsvorschrift von 1988 demnächst außer Kraft gesetzt wird, sie lieferte einen allzu schönen Beleg für den Surrealismus der europäischen Bürokratie. Die Regel hatte statuiert, das Objekt dürfe eine Krümmung von maximal 10 Millimeter auf 10 Zentimeter aufweisen, was krummer war, mußte auf lokalen Märkten abgesetzt werden. Auf Karikaturen sah man Herrn Barroso sein bestes Stück mit dem Zentimetermaß untersuchen und zu dem Schluß gelangen, es sei nur auf dem Wochenmarkt anzubieten.
Der jüdische Stress: ein so kleines Volk, ein so großer Gott, wenn das mal gutgeht.
13. November, Wien
Edmund Phelps, der Wirtschaftsnobelpreisträger, statuiert, die Banken haben es sich in den letzten Jahren zu bequem gemacht, indem sie ins leichte Hypothekengeschäft einstiegen und das Industrie-Investment vernachlässigten – aus dem einfachen Grund, weil letzteres viel Sachkenntnis verlangt, die keiner der jungen Spekulanten mehr besitzt. Wie anders war das in den Tagen von authentischen Industriebankleuten wie J.P. Morgan und Sigmund Warburg. Phelps gibt den Rat, man möge alles regulieren, was reine Finanzgeschäfte betrifft, aber ja nicht die Risikoanlagen in neue Unternehmen erschweren, die die Industrien von morgen sein könnten.
Der typische Sprechakt unserer Tage: Vor überhöhten Erwartungen warnen. Was geschieht da eigentlich? Man will die Kunst, Versprechen abzugeben, neu erlernen, indem man das Vielversprechende gegen das Wenigversprechende austauscht. Es liegt so viel Mißtrauen in der Luft, daß niemand mehr es wagt, als der nächste Enttäuschende wahrgenommen zu werden.
14. November, Wien
Unbeirrbar wie ein Knochenfisch, der in den Verliesen der Tiefsee allen Versuchungen durch Evolution widerstanden hat.
Der Staat bietet Sozialismus für die Großen an, seit eine neue Kategorie von Sozialhilfeempfängern emergiert ist: Die Banken, die Versicherungen, die überschuldeten Großbetriebe.
15.-20. November, Abu Dhabi
An Bord der Emirates-Airline-Maschine beginnt das orientalische Unternehmen, das sich wie eine Heimreise ins Märchen anfühlt. Ab jetzt gelten die Sprachregelungen für den Luxuskonsum: A new flying experience, a new on-bord dinig experience, a new living experience. An der Kabinendecke in der ersten Klasse erscheint ein Sternenhimmel, sobald die Maschine auf die Nachtstrecke der Reiseroute gelangt.
Der Aufenthalt im Emirates Palace, der zusammen mit dem Burj Al Arab von Dubai als das prunkvollste Hotel der Welt gilt, entwickelt sich zu einer spontanen Gipfelkonferenz. Man trifft Gott und die Welt ohne vorherige Absprache. Zur Zeit sind viele
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