Zeilen und Tage
Franzosen auf offizieller Mission im Land, da soeben eine von der Sorbonne Abu Dhabi organisierte Konferenz zum Thema »de Gaulle und die arabische Welt« zu Ende geht. Beim Frühstück ergibt sich die Gelegenheit, die seinerzeit im Matignon begonnene Konversation mit Ministerpräsident Dominique de Villepin fortzuführen. Am Strand spaziert Cecilia Bartoli mit ihren Eltern vorüber, augenrollend, humoristisch, üppig wie auf der Bühne.
Ilya und Emilia Kabakov sind da, beide äußern allen Ernstes die Meinung, sie hätten hier die Zukunft der Welt vor Augen. Bei ihnen stelle sich die Idee ein, sie seien in ein Stück hineingeraten mit dem Titel: Zurück zur Utopie, und sie scheinen es zu mögen. Zugleich müßte es für Russen auch indirekt beschämend sein. Ilya meint zwar, man spüre den Vorrang der gastgebenden Seite zu sehr – man hatte ihn und Emilia in eine 400-Quadratmeter-Suite einquartiert, in deren Vestibül ein Pralinenturm von über einem Meter Höhe und eine ebenso hohe Installation aus Früchten prangte. Doch räumt er ein, es müsse auch Leute geben in der Welt, die nicht nur Gäste sein wollen, sondern als Gastgeber großen Stils auftreten.
Vielleicht ist es für den hier herrschenden Geist der Improvisation und die Kultur der kurzen Wege bezeichnend, daß man erst in letzter Minute erfährt, was das Leitthema der Zusammenkunft ist. Fabrice meint, das Ganze wird sich um die Frage drehen: »What an aethetics is the Arab World creating today?« So paßt mein Essay über die Politik der Sammlung nicht schlecht in den Rahmen.
Im Gespräch mit Thomas Krens, der hier seit einigen Jahren den Aufbau des Guggenheim Museum Abu Dhabi leitet, und seinen Mitarbeitern entstehen Pläne für eine mögliche Integration der Karlsruher Schule in den Guggenheim-Komplex. Der verführt und blendet durch die Gestik der Riesenhaftigkeit.
Wer mit Thomas Krens abends raucht und trinkt, wie wir es unvorsichtigerweise im libanesischen Restaurant des Emirates Palace taten, riskiert einen indisponierten Morgen – ausgerechnet an dem Tag, an dem wir mit einem engen Verwandten des Landesherrschers, Scheich Sultan, bei Al Ain in die Sandwüste fahren, er selbst am Steuer eines großen Jeeps, großzügig, gutaussehend und unkompliziert wie ein Märchenheld. Er hatte Freude daran, uns seine Falken zu zeigen, darunter einen besonders wertvollen aus einer Zucht in der Gegend von Hamburg. Er erzählte von seiner Liebe zur Wüste, abends gehe er oft stundenlang allein in sie hinaus und denke über alles nach.
22. November Wien
Aus der Welt von übermorgen zurück in die Sphäre der ewig nicht ganz Heutigen.
Reisebilder: Die alte kleine europäische Dienerin im Haus von Scheich Sultan, die endlos neue Teller mit den erlesensten Gerichten auftrug. Die beduinische Ethik, im Alltag sparsamer als jede andere, will, daß bei Gelagen mit Gästen viel übrigbleibt zum Zeichen der Großzügigkeit.
Die Bibliothek von Zaki Nusseibeh in Al Ain, wo Literatur in vielen Sprachen aufgeschlagen auf den Tischen liegt.
Der pathetische arabische Dichter, der im Cultural Center seine Bagdad-Elegie rezitierte.
Die gelassene vorgestreckte Kopfhaltung der Kamele am Strand neben dem Hotel.
Der Fotograf aus New York, der unter den wehenden weißen Vorhängen des alten Palasts von Abu Dhabi Portraits aufnahm und nebenbei erzählte, sein Vater habe ihm ein Haus im mittleren Schwarzwald hinterlassen.
Die Palmen im Oasenwald von Al Ain, deren gebrochenes Licht eine stille Wunderwelt erzeugt.
Die Sängerin Gabriele Marzahn, die in Al Ain eben an diesem Tag einen Liederabend mit Teilen von Schumanns Dichterliebe geben sollte.
Der warme Wind um Mitternacht auf der Terrasse vor dem Zimmer.
Die weiße Oryx-Antilope auf den rötlichen Dünen.
3. Dezember, Karlsruhe
Erhalte die Nachricht, der Charles Veillon-Preis für Essayistik sei mir zuerkannt worden, die Verleihungszeremonie soll Anfang März in Lausanne stattfinden.
4. Dezember, Karlsruhe
Theologen heute, Fachidioten für Erlösung.
5. Dezember, Karlsruhe
Montaigne: »C’est un absolue perfection, et comme divine, de savoir jouir loyalement de son être.«
7. Dezember, Wien
In einem Artikel des britischen Publizisten Toby Young lese ich, es sei sein Vater gewesen, der Labour-Politiker und Sozialvisionär Michael Young, der im Jahr 1958 das Wort »Meritokratie« erfunden habe. Es taucht im Titel einer utopischen Satire auf: The Rise of the Meritocracy , worin der Zustand Großbritanniens im Jahr
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