Zeilen und Tage
nicht zu leugnen, daß sich über all das sinnvoll reden ließe, vorausgesetzt, man übersetzt die Beobachtungen wie die Begriffe in heutige Zusammenhänge. Man weiß nicht, welcher Teufel den Autor reitet, wenn er dann plötzlich die Unterordnung der Philosophie unter die religiöse Offenbarung dekretiert. ( Grammatik der Gefühle , S. 185)
26. Dezember, Wien
Eine Art von Winterschlaf, in dem man vergißt, daß es je einen Sommermenschen gab.
6. Januar 2009, Wien
Die kürzlich edierten Notizhefte von Roland Barthes über seine im Jahr 1974 gemeinsam mit Philippe Sollers, Julia Kristeva und anderen Freunden aus dem Kreis von Tel Quel unternommene Reise nach China verraten einiges von der Entzauberung, die sich der neugierigen Europäer angesichts der chinesischen Zustände bemächtigte. Sie waren zu jeder Überinterpretation bereit angereist, mit fabelhafter Pariser Projektionausrüstung im Gepäck – und scheiterten an der Banalität der ihnen gezeigten Tatsachenwelt.
Im Rückblick ist vor allem auffällig, wie die Reisenden nicht die Verhältnisse selbst verstörend fanden, die brutale Uniformierung, die Verwandlung des Landes in ein industriell-militärisches Kommandosystem, die Allgegenwart der monotonen Propagandasprache, die Verseuchung jeder Idee durch Tendenz und Hetze. Auch nahmen sie von dem im Hintergrund fortgehenden Morden im Zuge der Großen Proletarischen Kulturrevolution keinerlei Notiz. Was ihnen mißfiel, war die Unmöglichkeit, aus ihren Beobachtungen den kleinsten interpretativen Mehrwert herauszupressen. Sie sahen schlechthin nichts, was sich im Kontext des Pariser Bedeutungsmarkts hätte verwenden lassen, weder politisch noch ästhetisch.
Der europäische Revolutionstourist war ins Reich der Mitte gefahren, wie man im 19. Jahrhundert nach Italien fuhr – mit einem Skizzenbuch in der Hand, das sich mit Schätzen aus sensibel überhöhbaren Impressionen füllen sollte. Maos China jedoch erwies sich als das Reich einer unermeßlichen Sterilität, in demes nichts zu sammeln und zu deuten gab. Die aus Europa eingeflogene Sensibilität blieb unbeschäftigt, der Semiologe Barthes langweilte sich zu Tode, weil ihm die Zeichen Chinas keine Reflexion entlockten. Wenn er von erotischen Begegnungen mit chinesischen Jungen geträumt haben mochte, mußte er zuletzt notieren, er habe in diesen Wochen nicht das kleinste Zipfelchen (kiki) zu Gesicht bekommen.
Nach Europa zurückgekehrt, hatten die China-Fahrer Mühe, ihre Kapitulation zu gestehen. Hätte Roland Barthes wenigstens gesagt: Zu Mao fällt mir nichts mehr ein, die Botschaft wäre verstanden worden. Tatsächlich kam es, wie es kommen mußte. Die Enttäuschten lösten ihre maoistischen Engagements in aller Stille auf. Sie nahmen sich Zeit, um nach und nach in den Hafen der alten Werte einzulaufen. Mit tiefem Verständnis gestand man sich gegenseitig zu, daß zum Curriculum eines wahren Intellektuellen eine Saison bei den Mördern gehörte.
12. Januar, Wien
Man erkennt mit der Zeit immer deutlicher, welche Teufelei Ariel Sharon beging, als er 2005 den abrupten Abzug der israelischen Truppen aus dem Gaza-Streifen befahl. Dies war kein geordneter Rückzug einer Ordnungsmacht, die ihre Mission erfüllt hatte, vielmehr ein mephistophelischer Beschluß, die zurückgelassene Region ihren schlimmsten Gefährdungen auszuliefern.
13. Januar, Wien
Eine Statistik hält fest, der Besucher einer Kunstausstellung brauche im Durchschnitt 45 Minuten, um an 300 Exponaten vorbeizugehen, woraus sich eine Verweildauer des Blicks von 13 Sekunden pro Kunstwerk ergibt. Die Künstler spüren diese Prämisse ihrer Arbeit und schwanken zwischen der 13-Sekunden-Ästhetik und einem Werkethos für längere Präsenzen.
14. Januar, Wien
Finde in der NZZ einen bemerkenswerten Artikel des drusisch-arabischen Dichters Salman Masalha, in dem vom Fehlen einer Kultur der Gewissenserforschung in der islamischen Welt die Rede ist. Diesem Mangel entspringe der Habitus einer durchgehenden Unaufrichtigkeit arabischer Menschen im Umgang mit sich selbst. Die Tugend der Selbstkorrektur wird nicht gelehrt, und was in Lehrplänen fehlt, entsteht nicht in den Schülern.
Ein Araber muß demnach immer recht behalten, auch wenn er noch so eklatant unrecht hat. Diese Beobachtung macht manche Verhaltensweisen von Hitzköpfen aus jener Weltgegend begreiflicher. Gegenüber solchen Menschen darf man nicht auf Wahrheit insistieren, es ist besser, das Thema zu wechseln.
Andererseits steht es um die
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