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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Köpfe der europäischen Politik, das französische Gegenstück zu Helmut Schmidt, doch weiterhin in diplomatischen Missionen aktiv, etwa als französischer Arktis-Beauftragter; René Passet, der Ökonom, der bei den Anfängen von Attac dabei war und unter die Gründer des Weltsozialforums von Porto Allegre zählt; Stéphane Hessel, der große alte Mann der französischen Linken, Freund Eugen Kogons und Weggefährte von Pierre Mendès-France, ein Mann mit epischer Biographie, die vom Konzentrationslager Buchenwald bis an die Spitze der französischen Diplomatie führte; Fernando Cardoso, der ehemalige Ministerpräsident Brasiliens, der den jetzt von Lula genossenen Aufschwung des Landes auf den Weg brachte; Michael Doyle, der US-Politologe, der lange Jahre mit Kofi Anan, dem UN-Generalsekretär, zusammenarbeitete; Edgar Morin, der Gründer der französischen Systemtheorie, und einige andere. Von den prominenteren Mitgliedern des Collegiums würden diesmal nur Amartya Sen und Joseph Stieglitz fehlen.
    Mit einem Sprung in die extraterrestrische Sphäre von Monte Carlo. Man begreift nicht leicht, wieso sich ausgerechnet hier eine Versammlung von Leuten trifft, die sich Sorgen ums Ganze machen. Das Rätsel erklärt sich dadurch, daß es Prinz Albert ist, der sich als Schirmherr persönlich ins Gelingen der Tagung involviert. Am ersten Konferenztag trat er über Mittag für eine Stunde in Erscheinung – ein diskreter, fast blasser Auftritt, bei dem ein Hauch von réserve du prince mit der Vorsicht des Prominenten auf fremdem Terrain zusammenwirkten. Wer wußte, daß er in aller Welt als Pflanzer und Pate von Bäumen engagiert ist? Auch Monaco hat jetzt die Devise Ökologie ausgegeben.
    Was an diesen Tagen gesprochen wurde, war eine Kondensation von Weltwissen und Krisenbewußtsein, die einem rechtens den Schlaf rauben müßte, falls überhaupt Individuen die Richtigen wären, sich mit ihren Sorgen direkt aufs Ganze zu beziehen.
    Diplomatenfrühstück: La France est calme, Belgien in der Krise, Griechenland unruhig, Simbabwe in Flammen. René Passet bemerkt, was man »international« nennt, ist heute schon zu zwei Dritteln »intermultinational«.
21. Dezember, Wien
    Was könnte Max Scheler für ein großer Kopf sein, wenn er sich nicht ständig dazu hinreißen ließe, essentialistisch überspannten Unfug aufzuschreiben. Sein Malheur ist, daß er der Versuchung nicht widerstehen kann, die erstbesten Intuitionen zu Wesensgesetzen aufzublasen. Ausgerechnet er, der unruhigste womanizer unter den Intellektuellen der frühen zwanziger Jahre, der in puncto Polyvalenz nur durch Tillich, Heidegger und allenfalls Carl Schmitt in den Schatten gestellt wurde, schreibt abstruses Zeug über eine angebliche Scham a priori, die dafür sorge, daß Liebende die Genitalien des Partners nie direkt ins Auge zu fassen fähig seien. Aus jeder kleinen Neurose wird bei ihm eine anthropologische Konstante.
    Tidiane N’Diaye, Le génocide voilé. Enquête historique , Gallimard 2008. Der franco-senegalesische Autor errechnet, über 13 Jahrhunderte hin seien von arabisch-muslimischen Sklavenhändlern nicht weniger als 17 Millionen Schwarze in die arabischen Länder verschleppt worden, nicht selten unter Mitwirkung der schwarzen Eliten in den Jagdgebieten der arabischen Eindringlinge. Das afrikanische Elend ist älter als der Kolonialismus, und die Korruption der lokalen Machthaber reicht tiefer, als die gängigen Theorien der Entfremdung durch äußere Eroberung erfassen.
22. Dezember, Wien
    Die Halbwelt der geopferten Söhne: Idamante-Jesus-Kafka.
    Wie Erwachsene den Kindern ihre Sorglosigkeit gönnen, so werden Weltbürger, sollte es sie eines Tages geben, den herkömmlichen Erwachsenen ihre lokalen Sorgen zugestehen. Weltbürgertum ist entweder eine Phrase im Mund verwöhnter Liberaler – oder eine Erwachsenheit zweiter Stufe, die man nicht ohne weiteres erklimmt. Wo die sich abzeichnet, nähert man sich ihr nicht ohne Furcht und Zittern.
    Mythologie und gossip laufen auf dasselbe hinaus. Liebhaber von Mythen sind Leser, die gern in der peoples press der Götter blättern.
24. Dezember, Wien
    Max Scheler spricht schon im Jahr 1917 vom Aufstand des Regisseurtheaters gegen das Dichtertheater. Er sieht darin eine der geistigen Verkehrungen der Moderne, in der es überall zur Überordnung der Nutzwerte über die Lebenswerte komme, zur Erhebung der Lebenswerte über die Geistwerte, zur Exaltation des Zweckgedankens über den Formgedanken usw. Es ist

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