Zeilen und Tage
2032 in grotesken Farben geschildert wird. Zu dieser Zeit ist eine Regierung an der Macht, die unter den Kindern eine unerbittliche Auslese nach dem Schema: merit = IQ + effort betreibt.
Doch obschon es anfangs einen abstoßenden Albtraum bezeichnen sollte, bekam das Wort Beine und lief in die entgegengesetzte Richtung. Tatsächlich hat man bislang keinen besseren Ausdruck gefunden, um die Idee einer nicht-erblichen Elite zu formulieren, wie sie von Konfuzius bis Voltaire immer wieder gefordert worden war.
Es trifft wohl zu, daß die soziale Ungleichheit heute faktisch zunimmt, doch viel dramatischer wächst die Anstößigkeit von Ungleichheit, die durch den expansiven Egalitarismus der Massenkultur ins Licht gerückt wird. Seit jeher war der soziale Vergleich eine unfehlbare Anleitung zum Unglücklichsein, und seit sich die Populationen der heutigen Nationalstaaten auf eine gefährliche Ausdehnung der Vergleichszone eingelassen haben, erfahren sie täglich mehr Reibung, Provokation und diffuse Kränkung. Immer größere Zahlen an Menschen vergleichen sich heute distanzlos mit den Erfolgreichsten, wobei sie ihre Abstände zuden vermeintlichen und wirklichen Spitzen viel schärfer als früher spüren, ohne zu bedenken, daß sie realiter oft zu den relativ Wohlversorgten rechnen, die Grund zur Gelassenheit sehen sollten. Die Konsequenzen sind steigende Deprivationsgefühle, epidemische Unsicherheit, wachsendes Unbehagen im Status. Soziologen nennen die Vergiftung großer Bevölkerungsschichten durch Prominenz-gossip den »Hello-Magazine-Effekt«. Es scheint die Mission von Krähen wie Victoria Beckham zu sein, Millionen von Frauen unglücklicher zu machen, als sie es wären, wenn sie von ihr und ihresgleichen nie gehört hätten.
Wo früher das Volk war, gibt es jetzt das Celebretariat, bestehend aus latent Berühmten, denen zu ihrem Glück vermeintlich nichts fehlt, außer daß sie entdeckt werden müßten. Ein britischer Autor nennt diese Zersetzungsprodukte des Volkes das Lumpen-Celebretariat. In dem gibt es niemanden, der nicht am It-could-be-you-Syndrom leidet.
Man bräuchte eine globale Geschichte der Aufschwünge, im ökonomischen wie im psychologischen Sinn des Wortes, vom kalifornischen Goldrausch, der das Holzhüttendorf San Francisco zwischen 1848 und 1849 von 1000 Einwohnern auf 25 000 wachsen ließ, bis zu den Himmelfahrten der heutigen Emirate, mit Kapiteln über Rußland in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren und das westliche Wirtschaftswunder der zweiten Nachkriegszeit. Darin dürften die langen Partyjahre Moskaus und Poonas in den siebziger Jahren und die endlosen Feste von Madrid in den Achtzigern nicht fehlen.
In der Vorlesung über »Bios und Pathos« weiter mit einem Passus aus Sartres Les mots , insbesondere über den Abschnitt, in dem von dem fehlenden Herrn Simmonot die Rede war – einer Keimzelle der späteren Nichts-Theorien des Autors.
16. Dezember, Zürich
»Weh mir, ich werde ein Gott«, sagt Kaiser Claudius in einer römischen Satire, worauf er die Seele per anum aushaucht. Die Apokolokyntosis , alias Verkürbissung des göttlichen Claudius von Seneca dem Jüngeren, gilt als das einzige aus der Antike erhaltene Stück in der Gattung der menippischen Satire.
Bauen, Wohnen, Denken vor dem Modell: Wir verbringen einen ganzen Tag im Architekturseminar Gregor Eichingers an der ETH Zürich, wo zwei Dutzend personalisierte Häuserentwürfe nach Vorgaben von Peter Weibel und mir präsentiert und kasuistisch abgehandelt werden.
17. Dezember, Karlsruhe
Mein bester Rechtschreibfehler: »Berufsevolutionär«.
18.-20. Dezember, Monte Carlo
Vor einigen Wochen hatte Michel Rocard, der ehemalige französische Ministerpräsident und Vorsitzende des Collegium International, einer lockeren Assoziation von Wissenschaftlern und Politikern aus aller Welt, mich eingeladen, an einem Treffen der Gruppe in Monaco teilzunehmen, wo man an der Formulierung eines Weißbuchs für den Planeten arbeiten wolle.
Obwohl ich sonst den Good-will-Initiativen mißtraue und den Diskursen von aufgeblähten Weltrettern nicht viel abgewinnen kann, schien mir von Anfang an hier doch eine ungewöhnliche Konstellation vorzuliegen. Sacha Goldmann, der Sekretär des Collegiums, zählte eine Reihe von Mitgliedern auf, die man nicht ohne weiteres in die Reihe der narzißtischen Apokalpytiker verweisen kann. Sie alle würden in Monaco präsent sein: An erster Stelle Rocard selbst, immer noch einer der luzidesten
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